Dem eigenen Leben auf der Spur
Sternenhimmel auf, es ist noch angenehm kühl und der wunderbare Abend hat mir einen gewaltigen Schub gegeben. Der Weg schlängelt sich stetig bergauf, vorbei an Steineichenhainen, in denen schwarze Schweine frei herumlaufen. Mit einem kleinen Silberstreif am Horizont kündigt sich der Tag in weiter Ferne an, doch nur wenige Augenblicke später ist es taghell, als ob jemand das Licht angeschaltet hätte. Lediglich das gelegentliche Bellen eines Hundes durchbricht die Ruhe.
»Ich bin mit den schwarzen Schweinen auf Segeltörn«, höre ich in Gedanken meinen Vater sich von uns verabschieden, als ich noch zur Schule ging. Heute frage ich mich, ob er jemals schwarze Schweine in natura gesehen hat und würde ihm gern Bilder von diesen Tieren zeigen. Seine »schwarzen Schweine« waren ein Club von Männern, die alle in der Kohlebranche arbeiteten und sich einmal im Jahr trafen, mal mit mehr, mal mit weniger exotischen Zielen. Heute würde ich ihn gern einiges dazu fragen, mit der Zeit wurden diese Treffen dann immer seltener.
Hinter mir höre ich schwere Schritte, und schließlich holt mich Ludek ein. Bergauf ist er schneller als ich, bergab fliege ich an ihm vorbei. »Schwung holen«, rufe ich ihm später übermütig zu, als ich dem nächsten Anstieg entgegenflitze.
Gestern Abend erzählte er, dass er als Kellner an der Costa Brava arbeitet, und jetzt in seinem freien Monat nach Santiago de Compostela wandern möchte. Seine Mutter ist Deutsche und so spricht er etwas deutsch, sein Lieblingswort ist »wunderbar«, den Jakobsweg beschreibt er ironisch als »mein Kampf«.
Nach der Einsamkeit der vergangenen Stunden bin ich glücklich, am späten Vormittag den letzten Ort in Andalusien, El Real de la Jara, zu erreichen. Dank einer längeren Schwungphase habe ich den Tschechen weit zurückgelassen.
Das lachende Miteinander in der Herberge
In einer Bar führe ich den Gesprächsklassiker, bei dem ich die typischen drei Fragen beantworte: »Bist du auf der Vía de la Plata unterwegs? Im Rollstuhl? Allein?« Oft genug endet hier auch das Gespräch, und ich ernte einen verwunderten Blick oder ein Kopfschütteln. Natürlich kann ich verstehen, dass meine Erscheinung die Frage geradezu provoziert: Warum ausgerechnet der Jakobsweg?
Vor zwei Jahren bin ich an Weihnachten aus der Kirche ausgetreten. Trotzdem bin ich Christ. Ich suche und finde Gott seither außerhalb dieser allzu starr gewordenen Organisation, zum Beispiel in der Stille und Weite der Natur. Dort fühle ich mich intensiver als irgendwo sonst mit allem um mich herum und in mir verbunden, das war schon immer so.
Früher habe ich gerudert, ich habe es sogar bis zu einem undankbaren vierten Platz bei den Deutschen Meisterschaften geschafft.
Heute geht es mir nicht mehr um höher, schneller, weiter, sondern eher darum, einen Ort zu haben, an dem ich meinen Erinnerungen — Wie war das noch mal, auf zwei Beinen zu gehen? — und meinen Träumen — Wie wäre das, Arbeit als sinnvoll zu empfinden? — nachspüren kann. Kirchen und Kathedralen engen mich mittlerweile oft ein. Am liebsten habe ich sie heute weit vor mir — als Orientierungspunkte am Horizont.
Deshalb hat mich die Idee des Pilgerns wohl irgendwann finden müssen.
Es war an einem Spätsommerabend, wir kamen gerade aus dem Kino. Plötzlich kündigte meine Freundin Karola an: »Ich zeige dir jetzt mal was«, und schwang sich aufs Fahrrad. Ich hielt mich an ihrem Gepäckträger fest, und sie zog mich in rasanter Fahrt das kurze Stück vom Rossmarkt zur Leonardskirche direkt am Main.
Hier stehen zwei lebensgroße Bronzestatuen mit Muscheln und Pilgerstab, Jakobspilger, wie Karola verkündete. Genau davor stoppte sie. »Der Jakobsweg führt durch Frankfurt und endet im spanischen Santiago de Compostela«, erklärte sie mir, als sie meinen ratlosen Gesichtsausdruck bemerkte.
Bei mir ratterten die üblichen Klischees los: Klosterromantik, tiefe Gespräche, Selbsterkenntnis, und vor allem viel Bewegung in der freien Natur. Die Idee, aus eigener Kraft voranzukommen und für eine Weile sehr einfach zu leben, faszinierte mich sofort. Gerade hatte ich in einem Australienurlaub mehr Zeit in Autos und Flugzeugen als im Freien verbracht. Ich kam zwar erholt wieder, glücklich darüber, endlich einmal diesen Teil der Erde erlebt und Freunde besucht zu haben, aber es blieb nichts dauerhaft zurück. Schon wenige Tage nach meiner Rückkehr verblassten die Eindrücke, nur die nachträglichen Abbuchungen von
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