Dem eigenen Leben auf der Spur
Foto. Es ist eine große Last, die jetzt von einem abfällt.
Auch wenn ich Ruhe und Gelöstheit auf dem Weg gespürt habe, war ich doch nie ganz frei, es galt immerhin, ein Ziel zu erreichen. Ein Ziel, bei dem ich mir nie sicher sein konnte, ob ich es schaffe. Sogar noch die letzten Kilometer haben mir das noch einmal eindringlich vergegenwärtigt. Jetzt endlich kann ich es mir eingestehen: Ich bin sogar noch eine Woche schneller angekommen als geplant. Im Schnitt habe ich jeden Tag 31 Kilometer zurückgelegt.
Monte do Gozo ist eine in den sechziger Jahren entstandene Pilgerherberge und entsprechend ausgestattet. Bis zu 800 Pilger können hier in vier Bungalows übernachten, weniger als hundert sind heute Nacht hier. Für mich will man einen neuen Bungalow aufschließen, um mir bei dem nicht rollstuhlgerechten Bad einen privaten Raum zu ermöglichen. Das ist nett gemeint, und ich nehme das Angebot natürlich an. Im Stillen aber hadere ich mit den Umständen: Die Zeit des Alleinseins soll noch immer kein Ende gefunden haben. Erschöpft und dankbar über die gesunde Ankunft schlafe ich trotzdem schnell ein.
Pilger oder Tourist?
Heute ist alles anders. Eine so kurze Strecke habe ich an keinem anderen Wandertag zurückgelegt, und schon gar nicht mit gewaschener Kleidung und ohne Gepäck. Vermutlich ist jetzt gar nicht zu erkennen, ob ich Tourist oder Pilger bin. Im Moment bin ich mir da selbst nicht sicher. Der Rollstuhl fährt so leicht, schnell und wendig, als ob er kein Gewicht hätte, sondern schweben würde. Oder bin das ich?
Santiago, mein großes Ziel. Es sind kaum Menschen in den Gassen unterwegs. Ich finde mich gleich gut zurecht, es erscheint mir wie gestern, dass ich mit Lydia bei strahlendem Sonnenschein hier war. Eigentlich hätten wir auch damals noch nach Finisterre wandern können, aber Lydia war müde: »Ich bin für die nächsten Jahre genug gelaufen.«
Ohne Umwege gehe ich zur Kathedrale, wo ich gegenüber im Pilgerbüro mir schon damals meine Pilgerurkunde, die Compostela, habe ausstellen lassen. In der Kirche bete ich für die Menschen, die mir geholfen haben, mein Ziel gesund zu erreichen.
Vor der Kathedrale von Santiago: Regen ohne Ende
Ich lehne mich an eine Säule, es ist noch genug Zeit bis zum Beginn des Gottesdienstes. Während des Gebetes laufen die Tränen unaufhörlich, ich bin dankbar und erleichtert, hier sein zu dürfen. 33 Tage ohne schwere Unfälle, Krankheiten oder irreparable Materialschäden, nicht zu vergessen die immer wieder perfekt dosierte Hilfe, die mir an den unglaublichsten Orten zuteil wurde.
Im Geiste gehe ich den gesamten Weg noch einmal ab. Und mir wird klar, wie selten ich an manche Freunde oder meine beiden Brüder gedacht habe. Hier werde ich mich entsprechend — ändern.
Ich bin müde, aber die Neugier treibt mich in ein Internet-Café. Wie in Trance checke ich E-Mails, Aktienkurse und lese Nachrichten. Wie ferngesteuert mache ich Handgriffe, die ich gar nicht tun möchte. Ich spüre es in jeder Sekunde: Draußen in der Welt hat sich so wenig verändert, in meinem Inneren habe ich jedoch das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein, kräftiger und voller Gewissheit, dass ich nie wirklich allein bin. Paradoxerweise zeigen mir gerade diese mechanischen Handgriffe, wie weit ich mich von meinem Alltag entfernt habe.
Auf meinem Weg zurück zur Stille des Monte do Gozo zieht es mich in eine Bar. Das Bier schmeckt herrlich, und auf dem Musikkanal laufen Rockvideos aus den achtziger Jahren, während das Regenwasser in Bächen die engen Gassen flutet. Die meisten Lieder kann ich mitsingen, ich fühle mich großartig.
Spuren im Alltag
Jeder geht auf dem Jakobsweg den gleichen Weg. Die Pilgererfahrung ist unabhängig von der Fortbewegungsmethode, ob zu Fuß, per Fahrrad, mit dem Pferd oder dem Rollstuhl. Die gemeinsamen Erfahrungen schweißen zusammen, Hitze, Kälte, Hunger, Durst hat jeder Pilger auf dem gesamten Weg erfahren, und auch Rettung. Es gibt Kraft zu wissen, mit Brüdern in eine gemeinsame Richtung zu schreiten, mit Brüdern, die einander helfen, sollte das notwendig sein.
Das unterscheidet die Zeit hier vom Alltag. Dort ist Gemeinschaft oft nicht sofort erkennbar. Jedes unserer individuellen Ziele scheint von denen unseres direkten Nachbarn getrennt zu sein, und konsequenterweise meint jeder für sich allein kämpfen zu müssen.
Ich habe auf dem Jakobsweg ein weitgestecktes Ziel erreicht, mit viel Glück, suerte, und
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