24 Stunden
Derjenige, der Frau und Kinder hat, eine Geisel des Glücks.
FRANCIS BACON
1
»Das Kind schaukelt die Sache. Das hab ich doch schon gesagt.«
Margaret McDill hatte diesen Mann gestern zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen, und seitdem beherrschte er jede Sekunde ihrer Existenz. Er hatte zu ihr gesagt, sie könne ihn Joe nennen. Angeblich war das sein richtiger Name. Margaret nahm jedoch an, dass es ein Deckname war. Dieser dunkelhaarige, hellhäutige Mann um die 50 hatte tief liegende Augen und derbe Gesichtszüge, die mit Bartstoppeln übersät waren. Margaret schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Es waren dunkle, wütende Tümpel, die das Leben aus ihr heraussaugten und ihr den Willen nahmen. Es war ihr unerträglich, was diese Augen mittlerweile alles über sie erfahren hatten.
»Ich glaube Ihnen nicht«, murmelte sie.
Tief in seinen dunklen Augen blitzte es gefährlich. »Hab ich dich bisher angelogen?«
»Nein. Aber ich... ich habe die ganze Nacht Ihr Gesicht gesehen. Sie werden mich nicht gehen lassen.«
»Ich hab doch gesagt, das Kind schaukelt die Sache. Kann nichts schiefgehen.«
»Sie werden mich umbringen und meinen Sohn laufen lassen.«
»Denkst du etwa, ich knall dich am helllichten Tag vor diesem verdammten McDonald's ab?«
»Sie haben ein Messer in der Tasche.«
Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Na und?«
Margaret schaute auf ihre Hände. Sie wollte Joe nicht ansehen, und sie hatte gleichzeitig Angst, ihr Gesicht zufällig in einem der Spiegel zu erblicken. Es war schlimm genug gewesen, was sie zu Hause im Spiegel gesehen hatte. Sie hatte ausgesehen wie eine frisch Operierte, die gerade aus der Narkose erwacht war. Über ihren Augen lag ein Schleier, und selbst eine dicke Schicht Makeup konnte den blauen Fleck auf ihrem Kinn nicht verdecken. Vier ihrer aufwändig gepflegten Fingernägel waren in der Nacht abgebrochen, und der Kampf gegen den Eindringling hatte einen langen Kratzer auf ihrem Unterarm hinterlassen. Margaret versuchte, sich zu erinnern, wann es passiert war, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es war ihr schier unmöglich, auch nur einfachste Gedankengänge zu Ende zu denken.
Margaret konzentrierte sich auf ihre unmittelbare Umgebung, um nicht vollends die Nerven zu verlieren. Sie saßen in ihrem BMW auf einem Parkplatz an einer Einkaufsstraße, etwa 50 Meter von McDonald's entfernt. Im Einkaufszentrum, bei Barnes & Nobel und auch in der Zoohandlung, in der sie sich oft seltene tropische Fische aussuchten, waren sie Kunden. Ihr Mann war Herzchirurg und hatte kürzlich für die Ärzteausbildung in seiner Klinik bei Circuit City einen Großbild-Fernseher gekauft. Jetzt kam es ihr so vor, als ob all das zum Leben einer anderen Person gehörte - so fern wie die helle Seite des Mondes für jemanden ist, der auf der dunklen Seite ausgesetzt worden war. Und ihr Sohn Peter... Nur Gott allein wusste, wo er war. Gott und der Mann neben ihr.
»Es ist mir egal, was Sie mit mir machen«, sagte sie mit fester Stimme. »Wenn Sie nur Peter leben lassen. Töten Sie mich, wenn Sie es tun müssen, aber lassen Sie meinen Sohn laufen. Er ist erst zehn Jahre alt.«
»Wenn du endlich den Mund halten würdest, könnte ich mir deinen Vorschlag überlegen«, entgegnete Joe gereizt.
Er schaltete die Zündung des BMWs und die Klimaanlage ein. Anschließend zündete er sich eine Camel an. Der kalte Luftstrom verteilte den Rauch im ganzen Wagen. Margarets Augen brannten vom stundenlangen Weinen. Sie drehte den Kopf zur Seite, um dem Rauch auszuweichen, doch es war unmöglich.
»Wo ist Peter?«, fragte sie so leise, dass es kaum zu verstehen war.
Joe zog an seiner Camel, ohne ihr eine Antwort zu geben.
»Ich möchte... «
»Hab ich nicht gesagt, du sollst den Mund halten?«. Margaret starrte auf die Pistole, die auf der Ablage zwischen den Sitzen lag. Sie gehörte ihrem Mann. Joe hatte ihr die Waffe gestern weggenommen; sie hatte die Erfahrung machen müssen, wie nutzlos eine Waffe für sie war. Zumindest solange sie Peter in ihrer Gewalt hatten. Am liebsten hätte sie nach ihr gegriffen, doch sie würde sie bestimmt nicht vor ihm zu fassen bekommen. Wahrscheinlich wartete er nur darauf. Joe war schlank, aber erstaunlich kräftig. Auch das hatte sie gestern Nacht erfahren. Und dieser Mann mit den harten Gesichtszügen kannte keine Gnade.
»Er ist tot, nicht wahr?«, hörte Margaret sich sagen. »Sie spielen nur
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