Dem Tod auf der Spur
eigenen Aussagen ein paar Absätze später dann doch wieder in Frage zu stellen.
Aus dem Fehlen von Blut in den Atemwegen schlossen die beiden Obduzenten, »dass dem Schädelbasisbruch, wenn er überhaupt noch im Leben erfolgte, der Tod sofort nachgefolgt ist« . Dies macht die ganze Sache umso verwirrender, denn damit zweifeln die Obduzenten an, dass die massive (und als Todesursache angenommene) Verletzung der Schädelbasis überhaupt zu Lebzeiten erfolgte! Noch abstruser wird es, wenn nunmehr Gewehrkolbenschläge, die im Obduktionsbericht zehn Tage zuvor ja explizit ausgeschlossen wurden, als mögliche Todesursache angeführt werden: »Frau Luxemburg hat durch den ersten Kolbenschlag eine schwere Gehirnerschütterung ohne Knochenverletzung davongetragen, ob auch eine Gehirnblutung, lässt sich nicht entscheiden. Der zweite Kolbenschlag hat den Bruch des Zahnfortsatzes des Oberkiefers herbeigeführt.«
Warum die (von Tatzeugen als sehr heftig beschriebenen) Gewehrkolbenschläge auf den Kopf von Rosa Luxemburg nicht zu einer Verletzung des knöchernen Schädeldaches führten, wird im Nachtragsgutachten wie folgt begründet: »Dieser Kolbenschlag hat entgegen der ursprünglichen Vermutung, wie jetzt sicher erklärt werden kann, eine Verletzung des Schädeldaches nicht herbeigeführt. Anscheinend ist seine örtliche Wirkung, wie auch einer der Zeugen in der Hauptverhandlung gegen Rzewuski ausgesprochen hat, durch den damals noch auf dem Kopf befindlichen Hut und das Haar abgeschwächt worden, so dass der Kolbenschlag nur zu einer allgemeinen Gehirnerschütterung geführt hat.« Das ist, gelinde gesagt, blanker Unsinn. Auch für jeden Nicht-Mediziner ist die Erklärung, heftige Schläge mit einem harten Gegenstand könnten durch eine Kopfbedeckung und dichtes Haar derart abgeschwächt werden, dass sie nicht zu feststellbaren Verletzungen führen – aber trotzdem zum Tod! –, wohl mehr als haarsträubend.
Ganz nüchtern betrachtet, handelt es sich bei der am 3. Juni im Rahmen der Obduktion festgestellten Fraktur der Schädelbasis um einen sogenannten »Scharnierbruch« der Schädelbasis, der auf keinen Fall Folge eines Schusses ist, sondern vielmehr durch eine einseitige dynamische Gewalteinwirkung gegen die Schädelbasis entstanden ist. Nicht nur passt die Beschreibung der Fraktur der Schädelbasis nicht zu einem Schusskanal – würde es sich um einen Schussdefekt handeln, wäre unter dem Mikroskop eine Blutaspiration nachweisbar gewesen. Solche Scharnierbrüche der Schädelbasis sind Folge stumpfer Gewalteinwirkung, etwa wenn jemandaus der Höhe auf harten Untergrund stürzt oder nach einem Sprung in den Tod mit dem Kopf an eine Hauswand oder einen Brückenpfeiler schlägt. Solche Verletzungen überlebt in der Regel niemand, weshalb man auch keine Blutaspiration als Vitalitätszeichen findet – wie man auch bei der unbekannten Frau, die schließlich als Rosa Luxemburg beerdigt wurde, keine fand. Bei Rosa Luxemburg, die ja durch einen Schuss in die Schläfe getötet wurde, hätte man aber eine Blutaspiration feststellen müssen.
Nachdem für mich nun zweifelsfrei feststand, dass die in Zossen obduzierte Leiche nicht Rosa Luxemburg gewesen sein konnte, hatten wir Grund genug, unsere Fettwachsleiche näher in Augenschein zu nehmen.
Zunächst röntgten wir die Hüfte, denn würden wir dort nichts Auffälliges finden, wäre bewiesen, dass vor uns nicht Rosa Luxemburg lag. Doch tatsächlich zeigte sich im Röntgenbild ein degenerativer Hüftschaden. Damit hatten wir neben Körpergröße und Physiognomie eine weitere Übereinstimmung mit Rosa Luxemburg gefunden, die der damals obduzierten Leiche fehlte. Doch das war natürlich kein Beweis. Den konnte nur eine DNA-Analyse liefern. Wir benötigten also die DNA der Fettwachsleiche und Spuren, mit denen wir diese vergleichen konnten.
In unserer Abteilung für Forensische Genetik konnte das DNA-Profil isoliert werden. Zur gleichen Zeit fanden wir im Bundesarchiv in der Finkensteinallee in Berlin neben Originalbriefen und Abschriften auch Briefumschläge und Postkarten mit Briefmarken von RosaLuxemburg. Durch die Fortschritte der DNA-Analyse ist es möglich, schon aufgrund kleinster Speichelspuren einen genetischen Fingerabdruck zu erstellen. Also wandten wir uns an das Bundesarchiv in Koblenz mit der Bitte, uns einen Originalbriefumschlag zu überlassen, um die Briefmarken und die Umschlagfalz (dort, wo angeleckt wird) untersuchen zu können.
Wenige Tage später
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