Dem Tod auf der Spur
Gerade Hände und Füße, die nicht so kompakt sind wie der Rumpf, fallen häufig als Erstes Fäulnisveränderungen zum Opfer. Es gibt widersprüchliche Aussagen dazu, ob die Leiche Rosa Luxemburgs mit Drahtschlingen und Gewichten um Hand- und Fußgelenke beschwert wurde, ehe sie in der Nacht vom 15. auf den 16.Januar 1919 in den Landwehrkanal geworfen wurde. Sollte dies der Fall gewesen sein, wäre das eine weitere mögliche Erklärung: Durch sich bildende Fäulnisgase bekommt der Leichnam Auftrieb, so dass er sich mit der Zeit an den aufgeweichten Gelenken regelrecht von den beschwerten Händen und Füßen losreißt.
Nach der computertomographischen Untersuchung versprach ich mir weitere Erkenntnisse von der C-14- Methode, also der Bestimmung der Zeit bzw. Epoche, in der ein Mensch gelebt hat, mittels radiometrischer Analyse (vgl. Kapitel »Erhalten für die Ewigkeit«). Die Untersuchung eines kleinen Knochenstückes des rechten Schienbeins durch das Leibniz-Labor für Altersbestimmung und Isotopenforschung in Kiel ergab, dass die unbekannte Frau eindeutig zu der Zeit von Rosa Luxemburg gelebt hatte.
Das Fazit von Recherchen und Ausschlussdiagnose: Die von uns untersuchte weibliche Wasserleiche hat zur Zeit Rosa Luxemburgs gelebt und war zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen 40 und 50 Jahre alt; sie hat die Körpergröße, Statur und Körperproportionen der berühmten Sozialistin und litt zu Lebzeiten an einer Hüftgelenkserkrankung und einer Beinlängendifferenz, der Kopf ist präparatorisch abgetrennt worden. Die Herkunft der Toten konnte bislang nicht geklärt werden – vielleicht weil sie bewusst verschleiert worden war.
Natürlich sind diese Merkmale nicht einzigartig, sondern treffen sicherlich auf einige Frauen der damaligen Zeit zu. Aber wie viele Frauen wurden damals als Fettwachsleiche aus dem Wasser geborgen, in das Leichenschauhaus in Berlin gebracht, nicht identifiziert und blieben dann jahrzehntelang im Institut für Rechtsmedizin liegen? Keine weitere.
Bei der zweieinhalbjährigen Suche nach Ausschlusskriterien stieß ich nur immer wieder auf weitere Indizien dafür, dass es sich bei der geheimnisvollen Fettwachsleiche tatsächlich um Rosa Luxemburg handeln könnte.
Nun, da sämtliche mögliche Untersuchungen allesamt positive Resultate erbracht hatten, wollte ich einen letzten Versuch starten, per DNA-Abgleich für Klarheit zu sorgen, denn für einen Rechtsmediziner, dessenAufgabe es ist, neben der Klärung von Todesursachen und Todesumständen Menschen ihren Namen wiederzugeben, ist eine namenlose Leiche eine unbefriedigende Sache. Also wandte ich mich an die Öffentlichkeit, um vielleicht doch noch an Vergleichsspuren zu gelangen.
Leider verlief auch diese Suche bislang erfolglos. Das große öffentliche Interesse zeigt, dass das Schicksal der bedeutenden Frauenrechtlerin und Kämpferin der europäischen Arbeiterbewegung nach wie vor die Menschen bewegt. Die zweifelsfreie Identifizierung der Leiche würde zwar keine weiteren Einzelheiten zur Ermordung Rosa Luxemburgs ans Tageslicht befördern, sie würde jedoch neben einer politischen auch eine menschliche Tragödie zum Abschluss bringen.
Von einer eigentlichen Obduktion der Fettwachsleiche verspreche ich mir keine zusätzlichen Informationen, die wir nicht schon durch unsere anderen Untersuchungen erlangt hätten. Es ist eine Sache des Respekts gegenüber den Toten, in einem solchen Falle davon abzusehen, Brust- und Bauchhöhle aufzuschneiden. Auch die rechtliche Situation spricht dagegen. Wer soll die Einwilligung zu einer Obduktion geben? Sollte es sich um Rosa Luxemburg handeln, müsste man sich an direkte Nachfahren wenden – doch die gibt es nicht. Ein staatsanwaltschaftliches Todesermittlungsverfahren ist nicht eingeleitet worden, so dass eine richterliche Anordnung einer Obduktion auch nicht in Betracht kommt.
Die Möglichkeit, die Überreste der 1919 als Rosa Luxemburg beerdigten Frau zu exhumieren und zu untersuchen, besteht heute leider nicht mehr. 1935 zerstörten die Nazis die Gedenkstätte auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde, die der Architekt Mies van der Rohe 1926 als Revolutionsdenkmal zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht entworfen hatte. 1941 ebneten die Nazis die Grabfläche ein und entfernten die Gebeine – wobei bis zum heutigen Tag unklar ist, was mit den sterblichen Überresten damals geschah. Wilhelm Pieck, ehemaliger Weggefährte von Luxemburg und Liebknecht, SED-Mitbegründer und
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