Dem Tod auf der Spur
Leichenschauhaus eingeliefert worden.
Ich sah mir daraufhin auch die Leicheneingangsbücher des Instituts für Rechtsmedizin der Charité der folgenden Jahre genauer an. Diese Auswertung ergab, dass zwischen 1919 und 1922 insgesamt acht unbekannte weibliche Frauenleichen aus dem Berliner Landwehrkanal geborgen und ins Leichenschauhaus eingeliefert wurden. Sicherlich handelte es sich bei einer dieser acht unbekannten Frauenleichen um unsere Fettwachsleiche.Aufgrund des Ausmaßes der Fettwachsbildung hatte sie mindestens ein halbes Jahr, vielleicht aber auch drei Jahre im Wasser gelegen.
Warum ist diese Leiche nie offiziell identifiziert worden? Eine Erklärung wäre, dass ihre Identität, nämlich die Rosa Luxemburgs, ja bereits vergeben war.
Den einschlägigen Schriften nach war der Leichnam von Rosa Luxemburg im Garnisonslazarett auf einem Truppenübungsplatz in Zossen obduziert worden. Daraus ergab sich der nächste Schritt in meinen Bemühungen, die wahre Identität der von uns gefundenen Fettwachsleiche zu ermitteln beziehungsweise auszuschließen, dass wir es mit den sterblichen Überresten von Rosa Luxemburg zu tun hatten: Ich versuchte, über das Militärarchiv in Freiburg das Obduktionsprotokoll zu besorgen, falls ein solches tatsächlich existierte. Nur wenige Wochen später hielt ich es in den Händen. Damit war für mich der Fall unserer unbekannten Fettwachsleiche zwar nicht erledigt, ich ging aber nun davon aus, dass es sich bei ihr wohl nicht um Rosa Luxemburg handelte. Schließlich wies unser Leichnam keinerlei Spuren einer Obduktion auf. Als ich jedoch das zweiteilige Obduktionsprotokoll las, wurde mir schnell klar, dass dieser Schluss ein wenig voreilig war.
Zu diesem Zeitpunkt wurde bei mir aus rechtsmedizinischer Neugier ein konkreter Verdacht: War die damals als Rosa Luxemburg obduzierte Leiche gar nicht Rosa Luxemburg? Und wenn sie es nicht war: Konnte es sein, dass es sich stattdessen bei unserer Fettwachsleiche um Rosa Luxemburg handelte?Das Obduktionsprotokoll zum Todesfall der in der Nacht zum 31. Mai 1919 aus dem Berliner Landwehrkanal geborgenen Frauenleiche besteht aus zwei Berichten. Der Erste datiert vom 3. Juni 1919, dem Tag, an dem die Rechtsmediziner Prof. Dr. Fritz Strassmann und Prof. Dr. Paul Fraenckel im Garnisonslazarett auf dem Truppenübungsplatz in Zossen die Obduktion an der geborgenen Leiche vorgenommen hatten. Der Zweite datiert vom 13. Juni 1919, dem Tag der Beerdigung dieser Frau als Rosa Luxemburg.
Das Erstaunlichste zeigt sich gleich auf den ersten Blick: Das eigentliche Obduktionsprotokoll vom 3. Juni 1919 umfasst lediglich drei Seiten!
Die Ausführlichkeit üblicher rechtsmedizinischer Untersuchungen wurde in allen Kapiteln deutlich, die Sie in diesem Buch gelesen haben. Aber erinnern Sie sich an die zitierten Passagen aus dem Obduktionsprotokoll im Kapitel »Entzweigeteilte Ermittlung«? Schon diese Auszüge sind zusammen um einiges länger als das komplette erste Obduktionsprotokoll der angeblichen Rosa Luxemburg. Auch schon zur damaligen Zeit waren Obduktionsprotokolle weit ausführlicher und in der Regel mehr als ein Dutzend Seiten stark, vor allem bei einem politisch derart brisanten Fall. Vor diesem Hintergrund gibt es nur zwei mögliche Erklärungen:
Entweder wussten die Obduzenten zum Zeitpunkt der Obduktion nicht, dass es sich bei der ihnen präsentierten Frauenleiche nach Maßgabe von Reichswehrminister Gustav Noske um Rosa Luxemburg handelte, und gingen davon aus, dass es sich um eine weitere namenlose Selbstmörderin handelte.Oder den beiden Rechtsmedizinern war die Tragweite der Vertuschungsaktion durchaus bewusst, und sie folgten der Anordnung, dass einer unbekannten Frauenleiche die Identität der verhassten sozialistischen Freiheitskämpferin »verpasst« werden sollte,um endlich mit einem Teil des Mythos Luxemburg, nämlich mit der Suche nach dem vermissten Leichnam, abschließen zu können.
Ersteres ist allerdings wenig wahrscheinlich, da man zwei so hochkarätige Rechtsmediziner wie Strassmann und Fraenckel für einen solchen Fall nicht aus ihrem Institut in Berlin in das fünfzig Kilometer entfernte Zossen bemüht hätte. Strassmann und Fraenckel müssen meines Erachtens zumindest geahnt haben, dass ihre Aufgabe darin bestand, um die von ihnen dokumentierten Obduktionsbefunde herum die Identität Rosa Luxemburgs und die passende Todesursache zu konstruieren. Anders sind Kürze und Oberflächlichkeit des dreiseitigen Obduktionsprotokolls
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