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Demian

Demian

Titel: Demian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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sich. Dann fuhr er fort: »Unser neuer Glaube, für den wir jetzt den Namen des Abraxas wählen, ist schön, lieber Freund. Er ist das Beste, was wir haben. Aber er ist noch ein Säugling! Die Flügel sind ihm noch nicht gewachsen. Ach, eine einsame Religion, das ist noch nicht das Wahre. Sie muß gemeinsam werden, sie muß Kult und Rausch, Feste und Mysterien haben ...«
    Er sann und versank in sich.
    »Kann man Mysterien nicht auch allein oder im kleinsten Kreis begehen?« fragte ich zögernd.
    »Man kann schon«, nickte er. »Ich begehe sie schon lang. Ich habe Kulte begangen, für die ich Jahre von Zuchthaus absitzen müßte, wenn man davon wüßte. Aber ich weiß, es ist noch nicht das Richtige.«
    Plötzlich schlug er mir auf die Schulter, daß ich zusammenzuckte. »Junge«, sagte er eindringlich, »auch Sie haben Mysterien. Ich weiß, daß Sie Träume haben müssen, die Sie mir nichtsagen. Ich will sie nicht wissen. Aber ich sage Ihnen: leben Sie sie, diese Träume, spielen Sie sie, bauen Sie ihnen Altäre! Es ist noch nicht das Vollkommene, aber es ist ein Weg. Ob wir einmal, Sie und ich und ein paar andere, die Welt erneuern werden, das wird sich zeigen. In uns drinnen aber müssen wir sie jeden Tag erneuern, sonst ist es nichts mit uns. Denken Sie dran! Sie sind achtzehn Jahre alt, Sinclair, Sie laufen nicht zu den Straßendirnen, Sie müssen Liebesträume, Liebeswünsche haben. Vielleicht sind sie so, daß Sie sich vor ihnen fürchten. Fürchten Sie sich nicht! Sie sind das Beste, was Sie haben! Sie können mir glauben. Ich habe damit viel verloren, daß ich in Ihren Jahren meine Liebesträume vergewaltigt habe. Man muß das nicht tun. Wenn man von Abraxas weiß, darf man es nicht mehr tun. Man darf nichts fürchten und nichts für verboten halten, was die Seele in uns wünscht.«
    Erschreckt wandte ich ein: »Aber man kann doch nicht alles tun, was einem einfällt! Man darf doch auch nicht einen Menschen umbringen, weil er einem zuwider ist.«
    Er rückte näher zu mir.
    »Unter Umständen darf man auch das. Es ist nur meistens ein Irrtum. Ich meine auch nicht, Sie sollen einfach alles das tun, was Ihnen durch den Sinn geht. Nein, aber Sie sollen diese Einfälle, die ihren guten Sinn haben, nicht dadurch schädlich machen, daß Sie sie vertreiben und an ihnen herummoralisieren. Statt sich oder einen andern ans Kreuz zu schlagen, kann man aus einem Kelch mit feierlichen Gedanken Wein trinken und dabei das Mysterium des Opfers denken. Man kann, auch ohne solche Handlungen, seine Triebe und sogenannten Anfechtungen mit Achtung und Liebe behandeln. Dann zeigen sie ihren Sinn, und sie haben alle Sinn. – Wenn Ihnen wieder einmal etwas recht Tolles oder Sündhaftes einfällt, Sinclair, wenn Sie jemand umbringen oder irgendeine gigantische Unflätigkeit begehen möchten, dann denken Sie einen Augenblick daran, daß es Abraxas ist, der so in Ihnen phantasiert! Der Mensch, den Sie töten möchten, ist ja nie der Herr Soundso, er ist sicher nur eine Verkleidung. Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.«
    Nie hatte mir Pistorius etwas gesagt, was mich so tief im Heimlichstengetroffen hatte. Ich konnte nicht antworten. Was mich aber am stärksten und sonderbarsten berührt hatte, das war der Gleichklang dieses Zuspruches mit Worten Demians, die ich seit Jahren und Jahren in mir trug. Sie wußten nichts voneinander, und beide sagten mir dasselbe.
    »Die Dinge, die wir sehen«, sagte Pistorius leise, »sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. Sinclair, der Weg der meisten ist leicht, unsrer ist schwer. – Wir wollen gehen.«
    Einige Tage später, nachdem ich zweimal vergebens auf ihn gewartet hatte, traf ich ihn spät am Abend auf der Straße an, wie er einsam im kalten Nachtwind um eine Ecke geweht kam, stolpernd und ganz betrunken. Ich mochte ihn nicht anrufen. Er kam an mir vorbei, ohne mich zu sehen, und starrte vor sich hin mit glühenden und vereinsamten Augen, als folge er einem dunklen Ruf aus dem Unbekannten. Ich folgte ihm eine Straße lang, er trieb

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