Demian
ein, »aber worin besteht dann noch der Wert des einzelnen? Warum streben wir noch, wenn wir doch alles in uns schon fertig haben?«
»Halt!« rief Pistorius heftig. »Es ist ein großer Unterschied, ob Sie bloß die Welt in sich tragen, oder ob Sie das auch wissen! Ein Wahnsinniger kann Gedanken hervorbringen, die an Plato erinnern, und ein kleiner frommer Schulknabe in einem Herrnhuter Institut denkt tiefe mythologische Zusammenhänge schöpferisch nach, die bei den Gnostikern oder bei Zoroaster vorkommen. Aber er weiß nichts davon! Er ist ein Baum oder Stein, bestenfalls ein Tier, solange er es nicht weiß. Dann aber, wenn der erste Funke dieser Erkenntnis dämmert, dann wird er Mensch. Sie werden doch wohl nicht alle die Zweibeiner, die da auf der Straße laufen, für Menschen halten, bloß weil sie aufrecht gehen und ihre Jungen neun Monate tragen? Sie sehen doch, wie viele von ihnen Fische oder Schafe, Würmer oder Egel sind, wie viele Ameisen, wie viele Bienen! Nun, in jedem von ihnen sinddie Möglichkeiten zum Menschen da, aber erst, indem er sie ahnt, indem er sie teilweise sogar bewußt machen lernt, gehören diese Möglichkeiten ihm.«
Etwa dieser Art waren unsere Gespräche. Selten brachten sie mir etwas völlig Neues, etwas ganz und gar Überraschendes. Alle aber, auch das banalste, trafen mit leisem stetigem Hammerschlag auf denselben Punkt in mir, alle halfen an mir bilden, alle halfen Häute von mir abstreifen, Eierschalen zerbrechen, und aus jedem hob ich den Kopf etwas höher, etwas freier, bis mein gelber Vogel seinen schönen Raubvogelkopf aus der zertrümmerten Weltschale stieß.
Häufig erzählten wir auch einander unsere Träume. Pistorius verstand ihnen eine Deutung zu geben. Ein wunderliches Beispiel ist mir eben erinnerlich. Ich hatte einen Traum, in dem ich fliegen konnte, jedoch so, daß ich gewissermaßen von einem großen Schwung durch die Luft geschleudert wurde, dessen ich nicht Herr war. Das Gefühl dieses Fluges war erhebend, ward aber bald zur Angst, als ich mich willenlos in bedenkliche Höhen gerissen sah. Da machte ich die erlösende Entdeckung, daß ich mein Steigen und Fallen durch Anhalten und Strömenlassen des Atems regeln konnte.
Dazu sagte Pistorius: »Der Schwung, der Sie fliegen macht, das ist unser großer Menschheitsbesitz, den jeder hat. Es ist das Gefühl des Zusammenhangs mit den Wurzeln jeder Kraft, aber es wird einem dabei bald bange! Es ist verflucht gefährlich! Darum verzichten die meisten so gerne auf das Fliegen und ziehen es vor, an Hand gesetzlicher Vorschriften auf dem Bürgersteig zu wandeln. Aber Sie nicht. Sie fliegen weiter, wie es sich für einen tüchtigen Burschen gehört. Und siehe, da entdecken Sie das Wunderliche, daß Sie allmählich Herr darüber werden, daß zu der großen allgemeinen Kraft, die Sie fortreißt, eine feine, kleine, eigene Kraft kommt, ein Organ, ein Steuer! Das ist famos. Ohne das ginge man willenlos in die Lüfte, das tun zum Beispiel die Wahnsinnigen. Ihnen sind tiefere Ahnungen gegeben als den Leuten auf dem Bürgersteig, aber sie haben keinen Schlüssel und kein Steuer dazu, und sausen ins Bodenlose. Sie aber, Sinclair, Sie machen die Sache! Und wie, bitte. Das wissen Sie wohl noch gar nicht? Sie machen es mit einem neuen Organ, mit einem Atemregulator. Und nun können Sie sehen, wie wenig ›persönlich‹Ihre Seele in ihrer Tiefe ist. Sie erfindet nämlich diesen Regulator nicht! Er ist nicht neu! Er ist eine Anleihe, er existiert seit Jahrtausenden. Er ist das Gleichgewichtsorgan der Fische, die Schwimmblase. Und tatsächlich gibt es ein paar wenige seltsame und konservative Fischarten noch heute, bei denen die Schwimmblase zugleich eine Art Lunge ist und unter Umständen richtig zum Atmen dienen kann. Also haargenau wie die Lunge, die Sie im Traum als Fliegerblase benutzen!«
Er brachte mir sogar einen Band Zoologie und zeigte mir Namen und Abbildungen jener altmodischen Fische. Und ich fühlte in mir, mit einem eigentümlichen Schauer, eine Funktion aus frühen Entwicklungsepochen lebendig.
Sechstes Kapitel
JAKOBS KAMPF
Was ich von dem sonderbaren Musiker Pistorius über Abraxas erfuhr, kann ich nicht in Kürze wiedererzählen. Das Wichtigste aber, was ich bei ihm lernte, war ein weiterer Schritt auf dem Wege zu mir selbst. Ich war damals, mit meinen etwa achtzehn Jahren, ein ungewöhnlicher junger Mensch, in hundert Dingen frühreif, in hundert andern Dingen sehr zurück und hilflos. Wenn ich mich je und je
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