Demian
selber erzählen könnte! Furchtbare Träume, du!«
Ich erinnerte mich dessen, was Pistorius mir gesagt hatte. Aber so sehr ich seine Worte als richtig empfand, ich konnte sie nicht weitergeben, ich konnte nicht einen Rat erteilen, der nicht aus meiner eigenen Erfahrung herkam und dessen Befolgung ich mich selber noch nicht gewachsen fühlte. Ich wurde schweigsam und fühlte mich dadurch gedemütigt, daß da jemand Rat bei mir suchte, dem ich keinen zu geben hatte.
»Ich habe alles probiert!« jammerte Knauer neben mir. »Ich habe getan, was man tun kann, mit kaltem Wasser, mit Schnee, mit Turnen und Laufen, aber es hilft alles nichts. Jede Nachtwache ich aus Träumen auf, an die ich gar nicht denken darf. Und das Entsetzliche ist: darüber geht mir allmählich alles wieder verloren, was ich geistig gelernt hatte. Ich bringe es beinahe nie mehr fertig, mich zu konzentrieren oder mich einzuschläfern, oft liege ich die ganze Nacht wach. Ich halte das nimmer lang aus. Wenn ich schließlich doch den Kampf nicht durchführen kann, wenn ich nachgebe und mich wieder unrein mache, dann bin ich schlechter als alle anderen, die überhaupt nie gekämpft haben. Das begreifst du doch?«
Ich nickte, konnte aber nichts dazu sagen. Er begann mich zu langweilen, und ich erschrak vor mir selber, daß mir seine offensichtliche Not und Verzweiflung keinen tiefern Eindruck machte. Ich empfand nur: ich kann dir nicht helfen.
»Also weißt du mir gar nichts?« sagte er schließlich erschöpft und traurig. »Gar nichts? Es muß doch einen Weg geben! Wie machst denn du es?«
»Ich kann dir nichts sagen, Knauer. Man kann einander da nicht helfen. Mir hat auch niemand geholfen. Du mußt dich auf dich selber besinnen, und dann mußt du das tun, was wirklich aus deinem Wesen kommt. Es gibt nichts anderes. Wenn du dich selber nicht finden kannst, dann wirst du auch keine Geister finden, glaube ich.«
Enttäuscht und plötzlich stumm geworden, sah der kleine Kerl mich an. Dann glühte sein Blick in plötzlicher Gehässigkeit auf, er schnitt mir eine Grimasse und schrie wütend: »Ah, du bist mir ein schöner Heiliger! Du hast auch dein Laster, ich weiß es! Du tust wie ein Weiser, und heimlich hängst du am gleichen Dreck wie ich und alle! Du bist ein Schwein, ein Schwein, wie ich selber. Alle sind wir Schweine!«
Ich ging weg und ließ ihn stehen. Er tat mir zwei, drei Schritte nach, dann blieb er zurück, kehrte um und rannte davon. Mir wurde übel aus einem Gefühl von Mitleid und Abscheu, und ich kam von dem Gefühl nicht los, bis ich zu Hause in meinem kleinen Zimmerchen meine paar Bilder um mich stellte und mich mit sehnlichster Innigkeit meinen eigenen Träumen hingab. Da kam sofort mein Traum wieder, vom Haustor und Wappen, von der Mutter und der fremden Frau, und ich sah die Züge der Frau so überdeutlich, daß ich noch am selben Abend ihr Bild zu zeichnen begann.
Als diese Zeichnung nach einigen Tagen fertig war, in traumhaften Viertelstunden wie bewußtlos hingestrichen, hängte ich sie am Abend an meiner Wand auf, rückte die Studierlampe davor und stand vor ihr wie vor einem Geist, mit dem ich kämpfen mußte bis zur Entscheidung. Es war ein Gesicht, ähnlich dem frühern, ähnlich meinem Freund Demian, in einigen Zügen auch ähnlich mir selber. Das eine Auge stand auffallend höher als das andere, der Blick ging über mich weg in versunkener Starrheit, voll von Schicksal.
Ich stand davor und wurde vor innerer Anstrengung kalt bis in die Brust hinein. Ich fragte das Bild, ich klagte es an, ich liebkoste es, ich betete zu ihm; ich nannte es Mutter, ich nannte es Geliebte, nannte es Hure und Dirne, nannte es Abraxas. Dazwischen fielen Worte von Pistorius – oder von Demian? – mir ein; ich konnte mich nicht erinnern, wann sie gesprochen waren, aber ich meinte sie wieder zu hören. Es waren Worte über den Kampf Jakobs mit dem Engel Gottes, und das »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«.
Das gemalte Gesicht im Lampenschein verwandelte sich bei jeder Anrufung. Es wurde hell und leuchtend, wurde schwarz und finster, schloß fahle Lider über erstorbenen Augen, öffnete sie wieder und blitzte glühende Blicke, es war Frau, war Mann, war Mädchen, war ein kleines Kind, ein Tier, verschwamm zum Fleck, wurde wieder groß und klar. Am Ende schloß ich, einem starken, inneren Ruf folgend, die Augen und sah nun das Bild inwendig in mir, stärker und mächtiger. Ich wollte vor ihm niederknien, aber es war so sehr in mir
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