Demian
Vater, was davon zu halten sei, daß manche Leute den Kain für besser als den Abel erklärten.
Er war sehr verwundert und erklärte mir, daß dies eine Auffassung sei,
welche der Neuheit entbehre. Sie sei sogar schon in der urchristlichen Zeit aufgetaucht und sei in Sekten gelehrt worden, deren eine sich die Kainiten“
”
nannte. Aber natürlich sei diese tolle Lehre nichts anderes als ein Versuch des Teufels, unsern Glauben zu zerstören. Denn glaube man an das Recht Kains und das Unrecht Abels, dann ergebe sich daraus die Folge, daß Gott sich geirrt habe, daß also der Gott der Bibel nicht der richtige und einzige, sondern ein falscher sei. Wirklich hätten die Kainiten auch Ähnliches gelehrt und gepre-digt: doch sei diese Ketzerei seit langem aus der Menschheit verschwunden, und er wundere sich nur, daß ein Schulkamerad von mir etwas davon habe
erfahren können. Immerhin ermahne er mich ernstlich, diese Gedanken zu
unterlassen.
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Der Schächer
Es wäre Schönes, Zartes und Liebenswertes zu erzählen von meiner Kind-
heit, von meinem Geborgensein bei Vater und Mutter, von Kindesliebe und genügsam spielerischem Hinleben in sanften, lieben, lichten Umgebungen. Aber mich interessieren nur die Schritte, die ich in meinem Leben tat, um zu mir selbst zu gelangen. Alle die hübschen Ruhepunkte, Glücksinseln und Paradiese, deren Zauber mir nicht unbekannt blieb, lasse ich im Glanz der Ferne liegen und begehre nicht, sie nochmals zu betreten.
Darum spreche ich, soweit ich noch bei meiner Knabenzeit verweile, nur von dem, was Neues mir zukam, was mich vorwärts trieb, mich losriß.
Immer kamen diese Anstöße von der anderen Welt“, immer brachten sie
”
Angst, Zwang und böses Gewissen mit sich, immer waren sie revolutionär und gefährdeten den Frieden, in dem ich gern wohnen geblieben wäre.
Es kamen die Jahre, in welchen ich aufs neue entdecken mußte, daß in mir selbst ein Urtrieb lebte, der in der erlaubten und lichten Welt sich verkriechen und verstecken mußte. Wie jeden Menschen, so fiel auch mich das langsam erwachende Gefühl des Geschlechts als ein Feind und Zerstörer an, als Verbotenes, als Verführung und Sünde. Was meine Neugierde suchte, was mir
Träume, Lust und Angst schuf, das große Geheimnis der Pubertät, das paßte gar nicht in die umhegte Glückseligkeit meines Kinderfriedens. Ich tat wie alle. Ich führte das Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind mehr ist.
Mein Bewußtsein lebte im Heimischen und Erlaubten, mein Bewußtsein leugnete die empordämmernde neue Welt. Daneben aber lebte ich in Träumen,
Trieben, Wünschen von unterirdischer Art, über welches jenes bewußte Leben sich immer ängstlichere Brücken baute, denn die Kinderwelt in mir fiel zusammen. Wie fast alle Eltern, so halfen auch die meinen nicht den erwa-chenden Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen nur, mit unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das Wirkliche zu leugnen und in einer Kindeswelt weiter zu hausen, die immer unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun können, und mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit mir fertig zu werden und meinen Weg zu finden, und ich tat meine Sache schlecht, wie die meisten Wohlerzogenen.
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Jeder Mensch durchlebt diese Schwierigkeit. Für den Durchschnittlichen ist dies der Punkt im Leben, wo die Forderung des eigenen Lebens am härtesten mit der Umwelt in Streit gerät, wo der Weg nach vorwärts am bittersten
erkämpft werden muß. Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und lang-samen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns verlassen will und wir plötzlich die Einsamkeit und tödliche Kälte des Weltraums um uns fühlen. Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und mörderischste
aller Träume ist.
Wenden wir uns zur Geschichte zurück. Die Empfindungen und Traum-
bilder, in denen sich mir das Ende der Kindheit meldete, sind nicht wichtig genug, um erzählt zu werden. Das Wichtige war: die dunkle Welt“, die an-
”
”
dere Welt“ war wieder da. Was einst Franz Kromer gewesen war, das stak
nun in mir selber. Und damit gewann auch von außen her die andere Welt“
”
wieder Macht über mich.
Es waren seit
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