Demian
der Geschichte mit Kromer mehrere Jahre vergangen. Jene
dramatische und schuldvolle Zeit meines Lebens lag damals mir sehr fern und schien wie ein kurzer Alptraum in nichts vergangen. Franz Kromer war längst aus meinem Leben verschwunden, kaum daß ich es achtete, wenn er
mir je einmal begegnete. Die andere wichtige Figur meiner Tragödie aber, Max Demian, verschwand nicht mehr ganz aus meinem Umkreis. Doch stand
er lange Zeit fern am Rande, sichtbar, doch nicht wirksam. Erst allmählich trat er wieder näher, strahlte wieder Kräfte und Einflüsse aus.
Ich suche mich zu besinnen, was ich aus jener Zeit von Demian weiß. Es
mag sein, daß ich ein Jahr oder länger kein einziges Mal mit ihm gesprochen habe. Ich mied ihn, und er drängte sich keineswegs auf. Etwa einmal, wenn wir uns begegneten, nickte er mir zu. Mir schien es dann zuweilen, es sei in seiner Freundlichkeit ein feiner Klang von Hohn oder ironischem Vorwurf, doch mag das Einbildung gewesen sein. Die Geschichte, die ich mit ihm erlebt hatte, und der seltsame Einfluß, den er damals auf mich geübt, waren wie vergessen, von ihm wie von mir.
Ich suche nach seiner Figur, und nun, da ich mich auf ihn besinne, sehe ich, daß er doch da war und von mir bemerkt wurde. Ich sehe ihn zur Schule gehen, allein oder zwischen andern von den größeren Schülern, und ich sehe ihn fremdartig, einsam und still, wie gestirnhaft zwischen ihnen wandeln, von einer eigenen Luft umgeben, unter eigenen Gesetzen lebend. Niemand liebte ihn, niemand war mit ihm vertraut, nur seine Mutter, und auch mit ihr schien er nicht wie ein Kind, sondern wie ein Erwachsener zu verkehren. Die Lehrer ließen ihn möglichst in Ruhe, er war ein guter Schüler, aber er suchte keinem 32
zu gefallen, und je und je vernahmen wir gerüchtweise von irgendeinem Wort, einer Glosse oder Gegenrede, die er einem Lehrer sollte gegeben haben und die an schroffer Herausforderung oder an Ironie nichts zu wünschen übrigließ.
Ich besinne mich, mit geschlossenen Augen, und ich sehe sein Bild auftauchen. Wo war das? Ja, nun ist es wieder da. Es war auf der Gasse vor unserem Hause. Da sah ich ihn eines Tages stehen, ein Notizbuch in der Hand, und sah ihn zeichnen. Er zeichnete das alte Wappenbild mit dem Vogel über unsrer Haustüre ab. Und ich stand an einem Fenster, hinterm Vorhang verborgen, und schaute ihm zu, und sah mit tiefer Verwunderung sein aufmerksames,
kühles, helles Gesicht dem Wappen zugewendet, das Gesicht eines Mannes, eines Forschers oder Künstlers, überlegen und voll von Willen, sonderbar hell und kühl, mit wissenden Augen.
Und wieder sehe ich ihn. Es war wenig später, auf der Straße; wir standen alle, von der Schule kommend, um ein Pferd, das gestürzt war. Es lag, noch an die Deichsel geschirrt, vor einem Bauernwagen, schnob suchend und kläglich mit geöffneten Nüstern in die Luft und blutete aus einer unsichtbaren Wunde, so daß zu seiner Seite der weiße Straßenstaub sich langsam dunkel vollsog. Als ich, mit einem Gefühl von Übelkeit, mich von dem Anblick wegwandte, sah ich Demians Gesicht. Er hatte sich nicht vorgedrängt, er stand zuhinterst, bequem und ziemlich elegant, wie es zu ihm gehörte. Sein Blick schien auf den Kopf des Pferdes gerichtet und hatte wieder diese tiefe, stille, beinah fanatische und doch leidenschaftslose Aufmerksamkeit. Ich mußte ihn lang ansehen, und damals fühlte ich, noch fern vom Bewußtsein, etwas sehr Eigentümliches. Ich sah Demians Gesicht, und ich sah nicht nur, daß er kein Knabengesicht hatte, sondern das eines Mannes; ich sah noch mehr, ich glaubte zu sehen, oder zu spüren, daß es auch nicht das Gesicht eines Mannes sei, sondern noch etwas anderes. Es war, als sei auch etwas von einem Frauengesicht darin, und namentlich schien dies Gesicht mir, für einen Augenblick, nicht männlich oder kindlich, nicht alt oderjung, sondern irgendwie tausendjährig, irgendwie zeitlos, von anderen Zeitläuften gestempelt, als wir sie leben. Tiere konnten so aussehen, oder Bäume, oder Sterne – ich wußte das nicht, ich empfand nicht genau das, was ich jetzt als Erwachsener darüber sage, aber etwas Ähnliches.
Vielleicht war er schön, vielleicht gefiel er mir, vielleicht war er mir auch zuwider, auch das war nicht zu entscheiden. Ich sah nur: er war anders als wir, er war wie ein Tier, oder wie ein Geist, oder wie ein Bild, ich weiß nicht, wie er war, aber er war anders, unausdenkbar anders als wir alle.
Mehr sagt die Erinnerung mir nicht,
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