Den ersten Stein
Praxis passierte den meisten Leuten nichts Schlimmeres, als dass sie Strafe zahlen mussten und verwarnt wurden. Ausschlaggebend
war, dass man im bundesweiten Fernsehen sagen konnte, dass man die Sünder gefunden hatte. Ein paar Leute wurden eingebuchtet
und einige hatten es sogar verdient.
In den Unterlagen fand sich nichts, was bedeutend genug gewesen wäre, deswegen eine Pressekonferenz abzuhalten, und mit Sicherheit
nichts, weswegen man einen Ältesten ermordet hätte.
Ich überspielte Bruder Isaiahs letzte Predigt von meinem Handy auf die Stereoanlage. »Meine lieben Brüder und Schwestern,
in den letzten Jahren bin ich kreuz und quer durch unser großartiges Land gereist und habe die Nachricht von der Liebe und
Vergebung des Herrn verbreitet. Ich hatte das Glück, viele von euch kennenzulernen und mit vielen von euch zu beten; euer
Glaube ist ein Quell großen Trostes und großer Kraft für mich. Es gibt eine Frage, von der ich weiß, dass viele von euch gern
die Antwort darauf wüssten, denn es ist die Frage, die ich am häufigsten höre. Diese Frage haben schon die Jünger Jesus selbst
gestellt: ›Was wird das Zeichen sein für dein Kommen und das Ende der Welt?‹«
Was immer ich von seinen Glaubensüberzeugungen hielt, Bruder Isaiah hatte eine großartige Stimme gehabt. Sie war voller Würde
und Wärme, die Stimme eines alten Freundes, der einem eine wichtige Nachricht überbringt. Der Rest derPredigt konzentrierte sich darauf, dass wir Menschen Gottes Plan für seine Kinder nicht verstehen könnten. Wer das Gegenteil
behaupte, mache sich der Sünde des Stolzes schuldig. Es klang wie die üblichen Ermahnungen, den Mund zu halten und zu tun,
was einem gesagt wurde, aber ich war nie in die Sonntagsschule gegangen. Ich schaltete die Stimme Gottes aus und den Fernseher
ein.
»Ein Selbstmordattentäter hat heute Morgen einen Kontrollpunkt der Koalition westlich von Hebron angegriffen«, sagte der Sprecher.
Früher, bevor vierfache Mütter und Großväter sich Gürtel mit C4 umschnallten, war immer gesagt worden, wer die Attentäter
waren. Ein Wagen brannte in der Nähe eines Stacheldrahtverhaus. Die Soldaten, die eine Absperrkette um den Schauplatz bildeten,
wurden von einer Reihe von Panzern bewacht, deren Geschütztürme in die Wüste zeigten. »Keiner unserer Helden wurde bei der
Explosion verwundet, Dank sei Jesus«, sagte die wasserstoffblonde Reporterin. »Es wacht wahrlich eine höhere Macht über sie.«
Die Kamera verweilte auf dem entsetzten Gesicht eines Soldaten, der auf verkohlte Körperteile starrte, die man nicht sah.
Er war noch nicht lange genug im Heiligen Land, um sich die grimmige Maske zuzulegen, die die anderen Männer seiner Einheit
trugen. Wegen dieser Aufnahme würde wahrscheinlich jemand gefeuert werden.
Ich ließ den Fernseher an, falls noch irgendetwas Brauchbares kam, und schlug die Verrücktenakte auf. Sie war nicht so, wie
ich es erwartet hatte. Zwischen dem wortreichen Schwulst über die Wiederkunft Christi standen Beteuerungen der Unschuld und
flehentliche Bitten um Vergebung. Jeder einzelne Brief war an Bruder Isaiah persönlich gerichtet.
»Lieber Bruder, vergib mir meine Sünde, ich war in einer lieblosen Ehe gefangen …«
»Wir wissen, dass unser Sohn einen Fehler gemacht hat,aber er hat bereut und ist zu Jesus zurückgekehrt. Mit dem Drogenbesitz in seiner Akte wird mein Sohn niemals aufs College
gehen können. Wir bitten dich in deiner Herzensgüte …«
»Bruder Isaiah, schon mein ganzes Leben kämpfe ich gegen diese schreckliche Krankheit an. Endlich habe ich die Beratung und
die Gebete gefunden, die ich so dringend brauchte. Ich habe einen Brief des Pfarrers des Colorado New Life Rehabilitation
Centers beigelegt, der mich für geheilt erklärt. Wenn du den zuständigen Behörden mitteilen würdest, dass ich jetzt ein vollständig
geheilter Homosexueller bin, könnte ich vielleicht meine Arbeit als Lehrer …«
Ein Nachrichtenabschnitt über den Nahen Osten endete immer mit einer Erinnerung daran, wofür wir kämpften. Kinder spielten
im Staub der neuen Siedlungen und lachten in die Kamera. Im Hintergrund waren amerikanische Soldaten zu sehen, die die Wachtürme
der Sicherheitsmauer bemannten. Orthodoxe Juden beteten an der Klagemauer, und die Tränen ihrer Frömmigkeit vermischten sich
mit dem Schweiß, der unter ihren Jarmulkes hervorsickerte. Jesus hing noch immer über dem Altar der
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