Verrückt bleiben
PROLOG
Ein schizophrener Dichter namens März geistert durch die Kapitel dieses Buches. Er stammt aus dem Roman »März« von Heinar Kipphardt und ist mein Lieblingsheld. Für Kipphardt, seinen Schöpfer, ist Verrücktsein sozial verursacht. Er glaubt, dass sensible Menschen an dem zerbrechen können, was Familie und Gesellschaft mit ihnen machen. März hat als Kind eine Hasenscharte. Die Mutter kauft ihm eine Norwegermütze, hinter der er sie verstecken kann. Der Vater verbietet ihm, in Gegenwart von Gästen zu sprechen. Er wird sich davon ein Leben lang nicht erholen.
Mir ist der Mann mit der Hasenscharte nah. Warum nur? Ich bin ja gar nicht zerbrochen. Ich bin ja gar nicht verrückt geworden. Aber es hätte ebenso gut mich treffen können. März ist ja nicht verrückt, weil er anders ist, er ist verrückt, weil ihn der Versuch, so zu werden wie die anderen, zu viel Kraft gekostet hat. Wird man etwa allein vom Normaltun verrückt?
Als Kind sieht März einmal, wie seine Mutter eine Gans mästet, wie sie ihr mit einem Trichter Futter in den Hals zwingt, damit sie fett wird. »Die Gans, das war ich«, sagt März. »Sie war das Rohmaterial, in das man stopft und stopft, was ich nicht will.« Dafür bewundere ich die Verrückten in Kino und Literatur: Sie sagen und tun, was sie wollen.
Als ich meine Mutter anrief und ihr von meinem neuen Buchprojekt erzählte, sagte sie, ich hätte eine Meise. Ich schriebe immer nur über mich selber. Und überhaupt, solche Bücher gäbe es zuhauf. Ob ich wirklich der Meinung sei, das wolle einer lesen? Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Ich bin nicht etwa 14, ich bin 46 Jahre alt, selbst Muttereiner erwachsenen Tochter, ich habe vier Romane veröffentlicht, bin in der Welt herumgereist, gescheitert und wieder aufgestanden, ich bin geistig und finanziell unabhängig. Ich brauche wohl beides, die Mutter und die Meise. Vielleicht hätte ich es sonst gar nicht bis hierhin geschafft.
So ein Menschenleben ist ein gefesselter Tanz auf dem Drahtseil. Die Meise will tanzen, die Mutter fesselt, und man selber denkt: Bloß nicht runterfallen!
Verrücktsein kann schlimme Folgen haben. Herkules löscht seine Familie aus, Ajax stürzt sich ins eigene Schwert, Medea erdolcht ihre Söhne. Verrückt sein kann aber auch heißen, das Unmögliche zu wagen. König Ludwig II. baut das Schloss Neuschwanstein. Kolumbus entdeckt Amerika, Einstein die Relativitätstheorie. Das ist es: Verrückt bleiben, ohne verrückt zu werden. Schmaler Grat, sag ich nur, schmaler Grat.
Die Normalen bewohnen die Welt, die Verrückten bringen sie voran. Sie durchbrechen die Mauern der Konvention, plumpsen aus der Norm, laufen praktisch barfuß auf Messers Schneide herum – und ernten oft Undank. Doch Undank kann auch Ansporn sein. War es nicht Elfriede Jelineks Mutter, die den Nobelpreis aus ihr herausnörgelte?
»Juckpulver im Gehirn – nicht kratzen«, notiert März. Aber das ist leicht gesagt. Verrückt bleiben heißt nicht: durchdrehen; es heißt: die Meise und die Mutter im Kopf haben und trotzdem auf dem Drahtseil tanzen. Verrückt bleiben heißt, den Mut haben, seine Meise zu füttern. Füttern Sie Ihre Meise mit diesem Buch!
1. Selber denken
»Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst.«
Juliane Werding
Als Kindergartenkind habe ich mich gewehrt, gegen das kollektive Nacktschwimmen, das kollektive Mittagessen, den kollektiven Mittagsschlaf. Manchmal, wenn ich am Nachmittag abgeholt wurde, hatte ich zwei Stunden zähneknirschend unter einer fusseligen Schlafdecke gelegen, die Backen voller Essensreste. Einmal wurde Dirk, ein Junge aus meiner Gruppe, nackt aufs steinerne Waschbecken gestellt, weil er während der Mittagsruhe ins Bett gemacht hatte. Wir mussten alle mit den Fingern auf ihn zeigen und ihn auslachen. Ob der Mann, der aus diesem Jungen geworden ist, seit Jahrzehnten auf der Couch eines Therapeuten liegt und weinend diese Szene nacherlebt? Ob er verrückt geworden ist?
Damals weinte er. Ich auch. »Im Allgemeinen bist du frei, wenn du etwa vier bist«, sagt Charles Bukowski, »später gehst du zur Grundschule und wirst langsam geistig zerstört und weich.« Warum sollte ich andere verhöhnen? Warum sollte ich essen, wenn ich keinen Hunger hatte? Warum sollte ich schlafen, wenn ich nicht müde war? Auch zu Hause zeigte ich kleine Irrationalitäten. Ich brüllte, wenn ich Samt anfassen sollte. Ich brüllte, wenn ich Blasmusik hörte. Mein Vater sagte: »Alles
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