Den Letzten beißen die Schafe
Den Letzten beissen die Schafe
In mir strahlt das ewige Licht.
doch dahinter gibt es nichts.
- Tocotronic, Schall und Wahn
Ernährung ist ein schmutziges, ein schwieriges Geschäft. Seit einer Weile führe ich Buch darüber. In den letzten zwanzig Jahren vor Beginn meiner Reservatszeit habe ich mir während der Verpflegung siebenunddreißig Rattenbisse und eine kräftige Fleischwunde nach Kontakt mit einem überlebenswilligen Waschbären zugezogen. Ich wurde mit Feuerlöschern, Tränengas, Hochdruckreinigern vertrieben, beschimpft, verflucht und verwunschen und von allen gängigen Haustiersorten angefallen, habe ungezählte Angriffe von Hunden und Katzen und bösartigen Frettchen überstanden. Aber ein Schaf ist noch nie dabei gewesen.
Ich wüsste wirklich mal gerne, wer hier im Reservat auf die Idee mit den Schafen gekommen ist. Irgendwer wird sich doch überlegt haben: Nun gut, diese Vampire wollen von den Menschen loskommen, die wollen im Reservat Therapie machen, die wollen runter von der Sucht, versuchen wir es doch mit Wiederkäuern. Versorgen wir unsere Klienten doch ersatzweise mit Zweite-Wahl-Schafen, die beim Großhändler aussortiert wurden. Hängebäuchige Missgeburten, überzüchtete apathische Restbestände, depressive Tiere, die ihr Verfallsdatum überschritten hatten. Die kranken Schafe schmeckten, als hätte man eine Blutmahlzeit vor dem ersten Weltkrieg eingekocht und in einer rostigen Konservendose das zwanzigste Jahrhundert überwintern lassen, ehe sie einem jetzt lauwarm und geronnen auf den Teller gerührt wurde.
Keine Ahnung, ob depressive Vampire von depressiven Schafen träumen, obwohl ich mit Sicherheit stockdepressiv bin. Ich jedenfalls tue es nicht. Der einzige Traum, den ich seit Jahren habe, ist der: Auf einer mondbeschienenen Wiese liegen bis zum Morgengrauen und dann gepflegt in der aufgehenden Sonne verbrennen. Leider habe ich – anders als viele meiner Artgenossen - keine Sonnenallergie. Ich werde nicht einmal braun.
„Hau ab!“ rief ich dem Schaf entgegen.
Es kam meinen grasigen Hügel heraufgewackelt. Hier oben, fernab der Therapiegebäude, hatte ich es mir bequem gemacht, um den Mond anzustarren und vom Ende des irdischen Daseins zu träumen.
Es handelte sich um eins der typischen Reservatsschafe: ein gedrungenes, hässliches Tier mit knotigen Beinen und verworrenem Fell in der Farbe einer schmuddeligen Februarschneepfütze. Wie alle Schafe hier vollgepumpt mit Psychopharmaka, unrasiert und mit einer zerkratzten Metallplakette im Ohr. Ein Einwegrasierer baumelte in einem sauberen Plastikbeutel vom Hals des Tiers, daneben steckte wahrscheinlich die übliche bebilderte Anweisung, wie man einen Schafhals enthaarte, damit man sich nach der Mahlzeit nicht stundenlang die Wolle aus den Zähnen pulen musste.
„Hau ab!“ rief ich. „Ich will dich nicht, klar? Der Appetit auf euch Schafe ist mir gründlich vergangen.“
Das Schaf hörte nicht. Es wackelte zielstrebig in meine Richtung. Die Antidepressiva machten seine Bewegungen unsicher, das Tier schwankte hin und her, die Füße trippelten in einem ungesunden Rhythmus die Böschung hoch. Es hatte das unsichere Gangbild eines schweren Alkoholikers, der die ungehorsamen Füße nur bei äußerster Konzentration voreinander setzen konnte.
„Hier gibt’s nichts für dich!“ schrie ich. „Hol dir das Zeug von der Futterrampe. Hier wartet nur der Tod auf dich. Wenn überhaupt.“
Seit sie den Schafen Antidepressiva ins Futter mischten, um uns bei Laune zu halten, rührte ich die Tiere nicht mehr an. Ich war zu deprimiert, um noch den Wunsch zu verspüren, mich aufheitern zu lassen.
Ich lag ausgestreckt in einem Beet aus vertrockneten Krokussen, die ich zusammen mit der Gartenbaugruppe im März eingesät hatte und die infolge mangelnder Pflege eingegangen waren, nachdem die Gartenbaugruppe sich über den Anbau eines Geranienfelds zerstritten, aufgelöst und größtenteils umgebracht hatte. Die Pflanzen gaben ein knisterndes, deprimierendes Bett ab, eine saftlose Ruhestätte für meinen kraftlosen Körper.
Das Schaf erreichte schweratmend die Hügelkuppe und begann, ein paar trockene Pflanzenstiele aus dem Beet zu meinen Füßen zu rupfen. Seine Schnauze drückte und schob sich gegen mein Bein und zupfte an meiner dünnen Hose. Ein kluges, gesundes Tier hätte einen weiten Bogen um meinen wechselwarmen Leib gemacht. Aber dieses Schaf war sogar dafür zu dumm. Oder es wollte sterben. Vielleicht hatte
Weitere Kostenlose Bücher