Den Letzten beißen die Schafe
nächsten Ortschaft in gemächlichem Tempo. Die Freiheit fühlte sich vertraut an. Als hätte ich sie nur einen kurzen Moment vor den Toren des Reservats abgegeben und sie mir jetzt wieder abgeholt. Siebzehn Jahre. Ein Nichts für jemanden, dem die Zeit alle Bedeutung verloren hatte und der nach Jahren der Betäubung wieder hungrig auf das Leben war.
Ich riss die Gebrauchsanleitung von Henrys Hals. Zwei Stunden später warf ich das zerknüllte, blutige Kunststofftütchen in den Mülleimer einer Autobahnraststätte. Die Tankstelle strahlte königsblau, schön wie ein Palast aus der Zukunft. Es roch nach frisch gebackenen Brötchen.
Henry und ich feierten den ersten Sonnenaufgang in der Freiheit auf einer Parkbank am Rande des LKW-Parkplatzes und teilten uns eine Fanta. Vielleicht sollten wir per Anhalter zum Meer fahren? Keine gute Idee. Von tiefen Gewässern sollte ich mich erstmal fernhalten. Ich wollte ja leben.
Henry schlief an meiner Seite ein, und auch ich gestattete mir, einen Moment die Augen zu schließen. Als ich erwachte, stieg mir ein verführerischer Geruch in die Nase. Das satte, fettige, appetitliche Aroma schlimmer, schlimmer Gedanken.
„Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?“ Der LKW-Fahrer verströmte den Dunst tiefster menschlicher Verworfenheit aus jeder Pore. Er war fett wie ein Zuchtschwein und nahm einen tiefen Zug aus einer Inhalationsspraydose. Allergiker.
„Wo fahren Sie denn hin?“ fragte ich.
„Niedersachsen.“ Der Fahrer lächelte ein verkniffenes Lächeln, das zwischen seinen feisten Wangen fast verschwand. „Da können Sie und Ihr Schaf gerne mitkommen.“
Sie und Ihr Schaf.
Der Typ hatte kein Interesse an mir, so viel war klar. Seine schamlosen Verbrecheraugen hingen an Henry. Er stand auf Schafe. Trieb schlimme Dinge mit ihnen. Tat ihnen weh.
Der Typ kam wie gerufen.
Die Sonne erhob sich über der Tankstelle, ich duckte mich tiefer in meine Kapuzenjacke und drehte mein Gesicht aus dem Licht. Kein vernünftiger Mensch hätte mich mitgenommen. Aber ich hatte es hier nicht mit einem vernunftbegabten Wesen zu tun. Ich spielte keine Rolle. Zumindest nicht lange. Er wollte Henry, das war alles, er würde versuchen, mich während der nächsten Pinkelpause abzuhängen oder abzustechen.
Ein Leckerbissen. Nach so langer Zeit konnte man sich ja auch mal was gönnen, oder?
Ich setzte Henry auf den Mittelsitz im Fahrerhäuschen. Das Schaf seufzte zufrieden und begann, am Hebel der Gangschaltung zu nagen.
Über dem strammen Bauch meines Fahrers spannte sich ein viel zu enges T-Shirt, Hard Rock Café Pattaya. Die Hemden kamen wohl nie aus der Mode. Es gefiel mir, es erinnerte mich an die Siebziger.
„Waren Sie mal in Thailand?“ fragte der Fahrer, als er meinen Blick bemerkte. Er lenkte den Lastwagen schwungvoll auf die Autobahn nach Norden und klappte die Sonnenschutzblende herunter. „Dort ist es schön. Sehr, sehr schön. Viele junge Menschen.“
Henry blökte, der Fahrer kraulte ihn hinter den Ohren.
Ernährung ist ein schmutziges, ein schwieriges Geschäft.
Ich legte die Kapuze ab.
© Thomas-W. Becker
Oliver Dierssen, geboren 1980 in Hannover, ist Arzt in einer psychiatrischen Klinik. Sein Erstling Fledermausland erschien 2009 und gewann den Deutschen Phantastik Preis für das beste deutschsprachige Debüt . Dierssen lebt mit seiner Familie in einem denkmalgeschützten Backsteinhaus in Hannover.
www.oliver-dierssen.de
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