Denkanstöße 2013
vogelartiges Wesen, das mit ausgebreiteten Schwingen über den Garten streicht, als sei dieses aus Lust und Schmerz zusammengefügte Reich eben erst aus seinem gewaltigen Ei geschlüpft. Ist dieser mysteriöse Vogel der eigentliche Schöpfer der Welt â und nicht der Allmächtige, den jeder Stein dieses Kirchenbaus zu verherrlichen sucht? Und was bedeutet die in die Rückenlehne des Abtstuhls geschnitzte Inschrift: »Vere Deus absconditus«? Hatte der Künstler erkannt, dass der wahre Gott im Verborgenen bleibt und es wenig hilft, sich ein Bild von ihm zu machen? Wie passt das aber zusammen mit dem herrlichen Kruzifix, das im vorderen Teil des Kirchenschiffs aufragt, wo einst die Laienmönche ihre Gebete verrichteten? Dort ist der Gekreuzigte im Augenblick des gröÃten Leidens dargestellt: Der magere Brustkorb wölbt sich unter den Konvulsionen des Schmerzes mächtig auf, das Haupt ist zur Seite geneigt, der Mund halb geöffnet: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Man erzählt sich im Seminar, dass in den Tagen der Sommersonnenwende ein dünner Lichtstrahl aus einem der oberen Kirchenfenster auf das Haupt des Heilands fällt und dabei die Dornenkrone in hellem Glanz aufstrahlen lässt. Ist dieses Licht die Brücke, die zurück ins göttliche Geheimnis führt, wo Schmerz und Leiden aufgehoben sind?
Auch jetzt, beim Blick von seinem Strohlager hinauf in den von Sternen übersäten Himmel wird Hermann von der Macht der kosmischen Tiefe überwältigt, der Schwindel der Unendlichkeit greift ihm ans Herz, ein eisiges Todesgefühl, das nicht allein von der frühmorgendlichen Kälte herrührt, die vom Boden aufsteigt. Halb im Schlaf hört er hallende Schritte, sieht im Frühnebel eine Gestalt in einiger Entfernung auf der StraÃe vorbeigehen und im Dunkeln entschwinden â doch dann bricht die Sonne durch den Nebel und neuer Lebensmut durchströmt ihn. Hermann streckt seine klammen Glieder und klopft sich das Stroh aus den Kleidern. Jetzt muss er wieder in die Welt hinein, auch wenn er ratlos ist, wohin.
Er hat keine Ahnung davon, dass seine Kameraden am Vortag ausgeschwärmt sind, um den AusreiÃer aufzuspüren. Bis tief in die Nacht hinein haben sie die Wälder um Maulbronn nach allen Himmelsrichtungen abgesucht, unablässig »Hesse!« rufend. Schon am Nachmittag des 7. März 1892, »um 4 Uhr 40«, hatte Professor Paulus ein Telegramm an Johannes Hesse, Hermanns Vater, aufgegeben: »Hermann fehlt seit 2 Uhr. Bitte um etwaige Auskunft.« »Missionar Hesse« antwortet noch am Abend, er wisse nichts: »Bitte Beruhigung telegraphieren.« In Calw verbringt Hermanns Mutter Marie eine schreckliche Nacht am Bett ihrer fiebernden Tochter Marulla. Zur Angst um das Kind kommt jetzt die Sorge um den Sohn, der irgendwo in der kalten Nacht unterwegs ist. Marie Hesse steigert sich in ihrer Verzweiflung in die Vorstellung, Hermann könnte in einem der Seen um Maulbronn ertrunken sein, was für die Pietistin offenbar leichter zu ertragen ist als der Gedanke, ihr Sohn habe der Familie durch seine Flucht Schande gemacht. Am Morgen des 8. März bittet Marie Hesse ihren Bruder Friedrich, nach Maulbronn zu reisen, um eigene Nachforschungen anzustellen, doch schon um 12 Uhr 15 trifft ein Telegramm mit der Nachricht ein, Hermann sei »wohlbehalten zurück«.
Erschöpft und fast erfroren hat Hermann sich auf den Rückweg gemacht. Ãber Freudenstein und Diefenbach kommt er ins nördlich von Maulbronn gelegene Dörfchen Zaisersweiher; dort trifft er auf einen Gendarmen, den er fragt, wohin es denn nach Maulbronn geht? Als der Mann ihm den Weg nach Süden weist, dreht Hermann sich trotzig auf dem Absatz um und marschiert in die entgegengesetzte Richtung. Doch der erfahrene Polizist hat gleich bemerkt, dass es sich bei diesem seltsamen Wandersmann um den entlaufenen Seminaristen handeln muss, über dessen Verschwinden die Gendarmerien der Umgebung schon seit dem Vorabend informiert sind. Höflich, aber bestimmt bietet ihm der Beamte an, ihn nach dem gesuchten Ort zu begleiten, und Hermann willigt ein. Als die beiden das Klostertor erreichen, kommt ihnen bereits Repetent Mettler entgegen, um den AusreiÃer in Empfang zu nehmen. Inzwischen ist auch Hermanns Onkel Friedrich im Seminar eingetroffen und findet einen vor Kälte zitternden, schweigsamen Neffen vor. Hermann weiÃ, dass er
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