Denkanstöße 2013
war, entfaltete, je länger er dort war und je mehr er sich mit seinen Räumen und Winkeln vertraut machte, seinen ganzen Zauber. Nur dort, nicht in den enervierenden Bibelstunden spürt er, was eigentlich Religion bedeutet, dieses aus Ehrfurcht und Staunen gemischte Gefühl einer Bindung, die von etwas Umfassendem, die eigene Existenz EinschlieÃendem hervorgerufen wird, auch wenn dieses GröÃere sich ihm immer wieder entzieht, wenn er sich eine genauere Vorstellung davon zu machen versucht. Im schulmäÃigen Christentum findet er keinen Zugang zu dem, was ihn umtreibt, Bibelkritik empfindet er wie ein ätzendes Bleichmittel, das die Farbe aus den Bildern wäscht, die er sich von Jesus von Nazareth und seiner Welt gemacht hat. Ãhnlich ergeht es ihm mit dem, was er die »Pietisterei« nennt, die ungeheure moralische Verschärfung des Religiösen, die den Menschen klein macht und ihn unter die »Pflichten« presst, die ein Christenmensch täglich zu erfüllen hat. Das hatte er zwar in seinem Calwer Elternhaus als nicht so niederdrückend empfunden, weil im Missionsverlag des Vaters ein weltbürgerlicher Geist herrscht, der die christliche Vorstellungswelt mit den Kulturen der missionierten Völker in China, Japan und Indien konfrontiert und den praktizierten Glauben damit beweglicher, geschmeidiger und am Ende auch maÃvoller und toleranter macht. Doch die Rigorosität, mit der sein Vater das »Gute« in ihn, Hermann, hineinzuzüchten und das »Böse« zu eliminieren sucht, ruft in ihm das Gefühl hervor, nur ein halber Mensch sein zu dürfen, den seine doch auch von Gott gegebenen Triebe unrein machen, obwohl er ihnen viel, ja alles verdankt, die Lust an der Kunst nämlich, die das Helle und Dunkle, das Schöne und das Hässliche nach ihren ganz eigenen Gesetzen in sich vereint.
Als Kind hatte er seine Mutter einmal treuherzig und über sich selbst ein wenig erschrocken gefragt: »Gelt, ich singe so schön wie die Sirenen und bin auch so böse wie sie?« Wer ein Dichter sein wollte, der kann sich mit der amputierten bürgerlichen Welt nicht anfreunden, in der regelmäÃig die Pflicht über die Neigung, die Moral über das Kunstwerk gestellt wird. Und ist nicht das Kloster selbst, mit seinem groÃartig-schlichten Kirchenschiff, dem kunstvoll geschnitzten Chorgestühl und dem aus einem einzigen Sandsteinblock gehauenen Kruzifix der beste Beweis dafür, dass am Ende die Kunst über die Askese siegt, wie sie sich die Erbauer der Anlage, die Zisterzienser, auferlegt hatten? Man musste nur durch die Gewölbe streifen, um zu sehen, welcher Reichtum an Blättern, Trauben, Rosen und Tierköpfen aus dem Stein der Kapitelle, Konsolen und der Schlusssteine wächst. Der Ort, der den gröÃten Eindruck auf ihn machte, war das Chorgestühl. An den Reliefs, die an den AuÃenwangen des Holzgehäuses angebracht sind, kann er nur mit Ehrfurcht vorübergehen. Sie zeigen Szenen aus dem Alten Testament, wie Moses vor dem brennenden Dornbusch, den Wettstreit Kains und Abels, die Opferung Isaaks und den Kampf Samsons mit dem Löwen. Eine Welt, in der das eherne Gesetz Jahwes gilt und noch nicht die Menschenliebe Christi, auch wenn zwischen die alttestamentarischen Bilder christliche Motive wie das der Jungfrau mit dem Einhorn oder ein Porträt der Muttergottes eingeschoben sind, die den Blick auf das Neue, die Erlösungsbotschaft Jesu lenken. So fern ihm diese mythischen Bilder auch sind, so nahe geht ihm der Gedanke, dass die Gewalt- und Opferwelt der biblischen Stammväter und Propheten auch in ihn hineinreicht, ein Kain ebenso in ihm schlummert wie ein Abel, und dass im väterlichen Haus in Calw ebenfalls ein wenig von dieser Patriarchenluft weht, wie sie in diesen Darstellungen zum Ausdruck kommt.
Etwas abseits, an der Südwand des Chors, thront ein prächtiger Abtstuhl mit kunstvoll geschnitztem Baldachin. Als er die Klosteranlage zum ersten Mal erkundete, erregte das Relief an seiner Brüstung seine Aufmerksamkeit. Aus dem wie Flammen züngelnden Blättergewirr eines einzigen Rebstocks baut sich ein Paradiesgarten auf, eine Wildnis von Bäumen und Gekräute, mit Leibern und Köpfen von Tieren und allerlei Fabelwesen. Hinter dem Stamm des Weinstocks aber lauert ein Armbrustschütze, Sinnbild des Schmerzes, der jeden Augenblick in diese Idylle einbrechen kann. Dann bemerkte Hermann ein
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