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Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
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ein Extrapensum auferlegt und das Handbuch der deutschen Prosa studiert, um sein Stilgefühl zu entwickeln. Doch Freunden gegenüber klagt er, im Griechischunterricht lese man Homer, als sei die Odyssee ein Kochbuch: »Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort wiedergekäut, ekelhaft!« Wenn einer griechisch zu leben, wie die Griechen zu dichten versuche, werde er rausgeschmissen. Einen Aufsatz erhielt er zurück mit der kritischen Bemerkung: »Sie besitzen Phantasie!!« Das kannte Hermann ja schon aus Calw: Die Dichter werden von den Philistern hoch verehrt, ihre Werke gelesen und in den Bibliotheken aufgestellt, aber die eigenen Söhne dürfen auf gar keinen Fall den künstlerischen Weg einschlagen, sie sollen glaubensstarke Pfarrer, erfolgreiche Geschäftsleute oder tüchtige Beamte werden. Dichter, so die bürgerliche Vorstellung, kann man nicht werden, Dichter ist man. Eine Ausbildung zum Dichter gibt es nicht, leider, das weiß er jetzt, auch nicht in einer so den Musen geweihten Bildungsanstalt wie dem Maulbronner Seminar, wo man sich unablässig mit Cicero, Homer, Livius, Ovid und Xenophon beschäftigt. Hermann kennt die Folgen solch einer Künstler-Anmaßung aus der eigenen Familie, denn sein Bruder Theodor wollte Opernsänger werden und brach dafür seine Apothekerlehre ab – am Ende kehrte er als gescheiterter Künstler reumütig zur Pharmazie zurück.
    Er, Hermann Hesse, wird nirgendwohin reumütig zurückkehren! Seine Freiheitsliebe ist nicht nur durch die Lektüre von Schillers Dramen befeuert, die er geradezu schwärmerisch verehrt und deshalb immer wieder liest, sondern sie steckt tief in ihm, sie ist der innerste Kern seines Wesens. Die Rücksichtslosigkeit und Sturheit, mit der er seinen Eigen-Sinn durchsetzt, ist für alle, die mit ihm zu tun haben, eine ständige Herausforderung. Hermann weiß das, spürt aber, dass er gar nicht anders kann, auch wenn er, besonders gegenüber seinen Eltern, ein schlechtes Gewissen dabei empfindet und es immer auch den anderen recht machen will. Liebe und Freundschaft sind die einzigen Gefühle, die seinen unbändigen Durchsetzungswillen beschränken.
    Als Hermann den stillen Weinort Sternenfels passiert, über dessen Rebhängen ein steinerner Wehrturm in den verblassenden Himmel ragt, kehren seine Gedanken zu den Kameraden der Stube »Hellas« zurück, mit denen er bis vor wenigen Stunden eine kleine, verschworene Gemeinschaft gebildet hat. Er hat den Raum mit dem schönen Blick auf Kreuzgang und Brunnenhaus lieb gewonnen; dort steht sein Arbeitspult, in dessen Holz frühere Schüler ihre Namen eingeritzt haben. Auf dem Pult in wildem Durcheinander Wörterbücher, Arbeitshefte, Zeichnungen, Zirkel, Tintenfässer und Stahlfedern. Im Schreibtischkasten hat er seine kleine Privatbibliothek mit Werken von Schiller, Eichendorff, Klopstock, Freiligrath, Mörike, Körner, Lenau, Uhland und den Werther verwahrt, dazwischen aber auch Gläser mit Marmelade und Honig und einen Ring geräucherter Wurst. Der ihm angenehmste Stubenkamerad ist Wilhelm Lang aus Nürtingen. »Arm in Arm mit Dir, so fordr’ ich mein Jahrhundert in die Schranken!« – den Schwur des Don Carlos hatten sie sich oft zugerufen, erhitzt vom Eilfingerwein, den man spät abends heimlich im Dorment trinkt, um sich in Stimmung zu bringen für die Debatten über Freiheit, Freundschaft und Demokratie. »All voll, keiner leer, Wein her!« skandieren sie die »Maulbronner Fuge« Joseph Victor von Scheffels, der das bekannte Trinklied bei einem Besuch des Klosters verfasst hatte. Einmal schlichen die »Hellenen« über die finstere »Höllentreppe« hinab in den Kreuzgang, um eine Papst-Prozession mit weißen Umhängen, ausgestopften Bäuchen und Papier-Mitra aufzuführen, ein Schabernack, der in einem protestantischen Internat nicht gerade als Sakrileg aufgefasst wird, aber doch als geschmackloser Unfug. Auch hier war Hermann der Rädelsführer, schnitt die schiefsten Grimassen und marschierte mit der Mitra vorneweg. Nur einmal hatte er es zu weit getrieben, als er sich nach einem heftigen Disput über das Phänomen des Geisterwesens von einem Mitschüler hypnotisieren ließ. Sein Zustand – starr im Bett liegend mit weit geöffneten Augen – hatte alle Beteiligten tief erschreckt, sodass man sich den Lehrern offenbarte,

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