Denkanstöße 2013
die den Spuk verboten.
Im Kreis seiner Kameraden fühlt sich Hermann geborgen, und wenn er den Drang verspürt, allein zu sein, spielt er auf seiner Geige. In der Freizeit malt er mit Hingabe Porträts historischer Persönlichkeiten, karikiert aber auch Mitschüler und Lehrer. Bisweilen zieht er sich in die Klosterbibliothek zurück, in der die Regale mit den schweinsledernen Bänden bis hinauf zum gotischen Gewölbe reichen. Die Aura des stillen Ortes erinnert ihn an des GroÃvaters Bibliothek. Als Kind durfte er dort spielen, und wenn er allein war, zog er manchmal eines der schweren Bücher aus dem Regal, um stundenlang die Zeichnungen zu betrachten und sich in den Bildern zu verlieren. Auch in der Maulbronner Klosterbibliothek scheint die Zeit stillzustehen, sogar sein Dichterehrgeiz löst sich in solch glücklichen Augenblicken auf, spielerisch kann er sich seiner Neugier überlassen, von Gedanke zu Gedanke, von Buch zu Buch springen. Wie erlösend muss es sein, als Mönch Teil einer Gemeinschaft zu sein, die den persönlichen Ehrgeiz in einem höheren Ganzen aufgehen lässt!
Nachts jedoch überfällt ihn nicht selten eine merkwürdige Beklommenheit, Zweifel melden sich, ob das Seminar wirklich der richtige Ort für ihn sei, da es ja als Vorschule gilt für das nachfolgende Theologiestudium am Tübinger Stift. Kopfweh und Schwindelanfälle quälen ihn; an solchen Tagen liegt Hermann lange wach und versucht sich in seine Kindheit zurückzuträumen, um die böse Stimmung zu vertreiben. Bilder von den Flussauen seiner Heimatstadt steigen vor seinem inneren Auge auf, er sieht sich beim Angeln am Ufer sitzen oder auf einem Floà die Nagold hinabtreiben. Fast schon im Traum läuft er durch blühende Wiesen, ein Röckchen weht vor ihm her durchs Grün, verschwindet und taucht plötzlich verlockend wieder auf. Hermann wälzt sich im Bett, stöhnt, drückt seinen Körper an die Matratze â das helle Gesicht eines Mädchens erscheint, ihr nackter Körper verstrickt ihn in ein verwirrendes, erregendes, nie gekanntes Spiel, dann verflieÃen ihre Gesichtszüge wieder, verwandeln sich in das Antlitz der Madonna, die ihm aus einer der Seitenkapellen des Klosters entgegenlächelt. SchlieÃlich reiÃen ihn seine Dichterphantasien fort, leise spricht er Verse vor sich hin, bis sich aus dem Dämmer des Schlafsaals etwas Leuchtendes nähert: ein mit zarten Vignetten geschmücktes Bändchen, auf dem er seinen Namen erkennt und darunter den Titel »Romantische Lieder«.
Die Erinnerung an diese Vision lässt Hermann die Kälte vergessen, die langsam unter seine dünne Jacke kriecht. Er wandert bis in den späten Abend hinein, um in Bewegung zu bleiben, im Zickzack wie ein flüchtender Hase am Fuà des Strombergs entlang und im Schutz der Wälder, jede Begegnung mit Menschen meidend, bis er die Gemarkung von Kürnbach erreicht. Hier, in dem hessisch-badischen Ort, der ein kleines Schloss, ein stattliches Rathaus und mehrere Wirtshäuser besitzt, will er Rast machen, denn nun liegt Maulbronn bereits zwanzig Kilometer hinter ihm. Hermann verspürt groÃen Appetit auf Schweinebraten und Kartoffeln und würde sich auch gern einen Krug badischen Weins gönnen. Aber er hat nur ein paar Münzen dabei, die gerade für eine Metzelsuppe und einen Schoppen Bier reichen, die ihm die Wirtin mit misstrauischem Blick serviert. Ãbernachten könne er hier nicht, meint die unfreundliche Alte. So beschlieÃt er, dieses Dorf rasch wieder zu verlassen.
An einem Bachlauf zwischen Kürnbach und Derdingen entdeckt er einen Strohhaufen, in den er hineinkriecht, um sich vor der feuchten Kälte zu schützen. Das knisternde Stroh, das Murmeln des Baches und der wie ein Schirm über ihm aufgespannte, in winterlicher Klarheit funkelnde Himmel lassen ihm seine Lage jetzt gar nicht mehr so unangenehm erscheinen, auch wenn er lieber im Wirtshaus säÃe bei einem Glas Wein und mit einem Buch in der Hand. Vor allem vermisst er seine Geige, seine treueste Gefährtin und Seelentrösterin, die ihn niemals im Stich lässt. Der schönste Ort für sein einsames Spiel ist der Rasen vor der klösterlichen Brunnenkapelle, da mischen sich die Geigentöne mit dem Plätschern des Wassers und dem Summen der Insekten, die aus den Hecken aufsteigen. Das Kloster, das ihm zuerst düster und abweisend erschienen
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