Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
sie alles, was ihrwissensdurstiges Herz begehrt. Aber es tut sich noch mehr in ihrem Geist: Hier herrscht eine wahre Aufbruchstimmung. Sie spürt
in sich den Ansporn, weitere eigene philosophische und literarische Werke zu schaffen. Außerdem beschäftigt sie sich eingehend
mit der Zeitgeschichte und den politischen Ereignissen. Ein Rückzug ins reine Denken läge ihr nicht, denn in ihrem Wesen verbinden
sich beide Tendenzen: die Wachheit für das politische und gesellschaftliche Geschehen und der Wunsch, sich völlig dem Studium
und der produktiven Denkarbeit zu widmen.
Das Jahr 1395 scheint eine entscheidende Wendung im Verhältnis zwischen England und Frankreich zu bringen, die schon lange
zerstritten sind: König Richard II. von England gibt am 8. Juli seine Verlobung mit der erst fünf Jahre alten Isabella von Frankreich bekannt. Ganz sicher weiß man es nicht, aber die
Quellen sprechen dafür, dass Christine als Hofdame Isabellas nach Ardres reist, wo der König und die zukünftige Königin von
England einander vorgestellt werden sollen. Bei dieser Gelegenheit macht der Graf von Salisbury Christine das Angebot, ihren
ältesten Sohn, Jean Castel, nach England zu schicken. Dort könnte er zum Ritter erzogen werden. Christine ist entzückt von
dieser Idee. Sie willigt ein und stellt dadurch erneut ihre Kunst der Diplomatie unter Beweis: Ihr Bekanntheitsgrad wächst
durch diese Angelegenheit und die Gedichte werden ins Englische übersetzt.
Das Schicksalsrad wird mächtig nach oben gedreht, bis Fortuna es sich doch wieder anders überlegt: Der König von England wird
nämlich 1399 gewaltsam abgesetzt und in den Kerker geworfen, während man den Herzog von Lancaster zum neuen König macht. Raue
Sitten sind das, und Christine hat diesen neuen Rückschlag zu verschmerzen.Zum einen ist sie zutiefst betrübt, weil Richard in ihren Augen ein untadeliger, den Frieden im Land unterstützender Mann
war, der noch dazu die Schriftstellerei förderte. Zum anderen macht sich Christine Sorgen um ihren noch immer in England weilenden
Sohn. Als sie offiziell eingeladen wird, ihre »Karriere« in England fortzusetzen, also Frankreich zu verlassen, ist sie empört
ob dieser Dreistigkeit. Sie setzt alles daran, dass Jean Castel zurückkommt, und tatsächlich kann sie ihn bald in die Arme
schließen.
Ständig wird Christine herausgerissen aus der intellektuellen Arbeit. Man muss sich ja immer vor Augen halten, wie sehr sie
die Zurückgezogenheit liebt, gern allein ist mit ihren Gedanken und sich nichts sehnlicher wünscht, als genug Zeit zu haben,
um in Frieden nachdenken und schreiben zu können. Anders als ihre Tochter, die den Hang zum kontemplativen Leben geerbt und
das Kloster von Saint-Louis in Poissy als Lebensraum gewählt hat, muss Christine de Pizan sich tagtäglich mit jeder nur möglichen
Unbill auseinandersetzen. Nie kommt sie zur Ruhe und kann sich angemessen dem widmen, was ihr so wichtig ist. Dass Christine
auch in ihrem Denken und Dichten die Welt draußen nicht wird ausklammern können, ist klar. Auf Schritt und Tritt stößt sie
auf Probleme des Alltags und wird konfrontiert mit der aktuellen Politik und Zeitgeschichte. Sie lebt nicht in einem gläsernen
Käfig, sondern mitten im Geschehen. Ihr Philosophieren geht aus von der Beobachtung der Welt und ist von vornherein auf das
»rechte Handeln« bezogen und nie bloße Theorie. In der intensiven Auseinandersetzung mit der politischen und vor allem der
gesellschaftlichen Wirklichkeit entwirft sie ihre Gedanken, die um ethische Problemekreisen und auf das Tun der Menschen bezogen sind. Um alle diese Fragen gedanklich bewältigen zu können, bräuchte man mehr
Muße und die Möglichkeit zum Alleinsein.
Einschneidend für Pizans geistige Entwicklung ist die Kontroverse um den zu dieser Zeit als Bestseller gehandelten
Rosenroman.
Der erste Teil dieser Versdichtung ist bereits um 1245 erschienen, und zwar ganz im Stil der mittelalterlichen Liebeslyrik,
die von einem hohen Frauenideal geprägt war. Es geht in diesem Roman um die Schilderung eines Traums: Der Dichter Guillaume
de Lorris träumt von einer Rose, die eine wilde Sehnsucht in ihm entfacht. Es ist für ihn nahezu unmöglich, zum Gegenstand
seines Verlangens vorzudringen; zuerst sind Gefahren, Eifersucht und üble Nachrede zu überwinden. Diese treten als Personen
auf, wie wir es auch von Frau Fortuna kennen. Plötzlich jedoch verstummt die Stimme
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