Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
des Dichters: Er ist über seiner Arbeit
gestorben.
Das Gedicht bleibt unvollendet, bis Ende des 13. Jahrhunderts ein gewisser Jean de Meung, Professor an der Pariser Universität, auf die unselige Idee kommt, daran weiterzuschreiben.
Guillaume de Lorris wäre noch einmal tot umgefallen, hätte er dieses üble Machwerk zu Gesicht bekommen. Offenbar haben sich
die Zeiten gewaltig geändert, und mit ihnen das Frauenbild, das nicht negativer sein könnte. Jean de Meung schildert die Frau
als Wesen ohne Intellekt, als phantasie- und gefühllos, unmoralisch und der Verachtung würdig. Es ist seiner Meinung nach
die Aufgabe der Frau, sich dem Mann zu unterwerfen und der Befriedigung seiner Lust zu dienen. Die Liebe sei ein Trugbild
und existiere in Wirklichkeit überhaupt nicht, schreibt der Autor. Kein Funken Hochachtungdem weiblichen Geschlecht gegenüber ist übrig geblieben.
Eine Rolle bei dieser Entwicklung spielt auch der Zuwachs an Macht, den die Universität und damit die Professoren zu verzeichnen
haben. Frauen dürfen keine Vorlesungen besuchen, sind von jeder akademischen Bildung ausgeschlossen. In ihrer frauenfeindlichen
Haltung verbinden sich die Professoren mit den Geistlichen. Die Päpste des 14. Jahrhunderts sind Franzosen und alle an der Pariser Universität ausgebildet worden, was den Stolz des Professorenstandes noch
mehr anstachelt. Interessanterweise ist im
Rosenroman
zu lesen, dass es die Universität sei, die das Tor zum Christentum öffne. In der Frage nach dem guten Leben, in der Ethik
also als einer philosophischen Disziplin, spielt die Religion schon immer eine entscheidende Rolle. Dass nun auch die Wissenschaft
miteinbezogen werden soll, hat bereits Thomas von Aquin (um 1225 – 1274) gefordert. Er hat versucht, Gott mit der Methode logischer Schlussfolgerungen zu beweisen. Es reicht für ihn nicht mehr
aus, einfach zu glauben, sondern er will den Glauben mit dem Wissen verbinden. Damit nähern sich Kirche und Universität an.
Im Bereich solch tiefsinniger Gedanken und Diskussionen haben die Frauen keinen Platz. Sie dürfen nicht mitreden, worüber
sich Christine entrüstet zeigt. Sie hat es allerdings schwer mit ihrer Kritik, zumal König Karl VI. mittlerweile Anfälle von
geistiger Umnachtung zeigt. Wenn Unruhe und allgemeine Orientierungslosigkeit herrschen, bleibt keine Kraft und Zeit, sich
auch noch mit den Fragen zu beschäftigen, die eine Frau aufwirft. Auf niemanden mehr können die Frauen zählen. Christine jedoch
setzt sich an ihr Schreibpult und bringt zu Papier,was sie über Männer wie Jean de Meung denkt: »Dichtwerke verfassen sie, Reimsprüche, Prosa, Verse; / Verunglimpfen weibliches
Verhalten auf unterschiedliche Weise.« 4
Sie ist der Meinung, dass Frauen ganz andere Bücher schreiben würden als Männer, dass sie friedfertiger sind und den Krieg
verurteilen. In ihren Schriften beklagt sie, dass es keine echten Werte mehr gibt. Keiner kümmert sich noch um so etwas wie
eine Grundlegung ethischen Verhaltens. Auch wenn die Wissenschaft Fortschritte erzielt und es nicht an klugen Köpfen mangelt,
fehlt doch die Neigung, die Klugheit zur Lösung ethischer Probleme einzusetzen. Intelligenz schützt eben nicht vor Unmoral
und ermöglicht sogar eine derartige Verzerrung des Frauenbildes, wie Christine sie erlebt.
Jede Zeit ist auch daran zu messen, wie sie mit den sozial Schwachen umgeht. Christines Zeitgenossen neigen weit eher zu Verhöhnung
und Missachtung denn zu Einsicht und Mitmenschlichkeit. Die Ritterlichkeit, die den Umgang des Mittelalters, zumindest in
den idealen Entwürfen der Dichtung, mit den Frauen und den gesellschaftlich Schlechtgestellten weitgehend geprägt hatte, existiert
nicht mehr. Wertvorstellungen aus dem kriegerischen Bereich sind gefragt. Wer stark genug ist zu kämpfen, überlebt, wer schwach
ist, unterliegt. Auch die Beziehung zwischen Mann und Frau wird mit Begriffen aus dem Kriegsvokabular gedeutet. Der Frau gebührt
eher die Opferrolle, während der Mann Machtfunktionen ausübt.
Christine kann natürlich eine solche Ansicht nicht gutheißen und protestiert offen, indem sie Briefe an die Geistesgrößen
der Universität schreibt und damit einen Streit unter den Professoren entfacht, den die frauenfeindlichenHardliner gewinnen. Die Hochschullehrer haben die Position inne, die einst den Rittern zukam: Sie entscheiden, welche Prinzipien
gelten. Gedankenfreiheit besteht nicht.
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