Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
mehr.
Die Edelleute zeigen nicht das geringste Mitleid,
Und gleiches gilt für die Gelehrten jeglichen Ranges ...
Helft den Witwen, schenkt diesem Gedicht Glauben:
Ich sehe niemanden, der Mitgefühl mit ihnen hätte,
Und die Ohren der Fürsten sind taub für ihre Klagen .
1
Dies ist kein Gedicht, das Christine nur für sich im stillen Kämmerchen geschrieben hat, um ihren Schmerz auszudrücken. Sie
formuliert darin eine ganz klare Gesellschaftskritik. So wie die Welt ist, wie sie beispielsweise mit Witwen umgeht, so darf
es nicht bleiben. Damit kann Christine nicht zufrieden sein. Gleichzeitig ist sie sich dessen bewusst, was es bedeutet, als
Frau ihrer Zeit aufzumucken und revolutionären Geist zu zeigen. So geht sie lieber vorsichtig an die heiklen Themen heran,
verhält sich äußerst geschickt und schreibt nicht nur kritische Texte, sondern auch reine Liebespoesie oder die im Mittelalter
beliebten Hirtengedichte. Doch inmitten einer Sammlung anscheinend harmloser, unverfänglicher Liebesgedichte sehen sich die
Leser dann plötzlich mit folgenden Versen konfrontiert:
Manche Leute könnten, was meine Person betrifft, auf falsche Gedanken kommen, weil ich Liebesgedichte schreibe.
Wer solche Vermutungen gehegt hat, möge diese schnellstens vergessen,
denn meine Interessen liegen in Wirklichkeit auf ganz anderen Gebieten .
2
Christine de Pizan übt sich in den zeitgemäßen Themen und Formen. Auch Isabelle von Bayern beispielsweise, seit 1385 mit König
Karl VI. verheiratet und 1389 gekrönt, hat eine Schäferei erworben. Schäferin und Schäfer gelten als Urbilder für das einfache
Leben, das im Kontrast steht zu den Zeremonien am Hof. Die Dichterin findet Gefallen bei der Gesellschaft des Hofes, indem
sie sich deren Geschmack scheinbar unterwirft. Man liest ihre Werke und sie kann, ohne völlig aus dem Rahmen zu fallen, wie
beiläufig ihre kritischen Bemerkungen untermischen. So handelt eine kluge, diplomatische Frau. Sie fällt nicht mit der Tür
ins Haus und verschreckt dadurch ihre Leserinnen und Leser. Wie oft mag sie still in sich hineinlächeln, wenn sie sich vorstellt,
wie die Damen des Hofes verzückt ihre dem Zeitgeschmack »angepassten« Verse lesen. Christines Sprache ist realistisch und
bilderreich. Sie lässt nichts aus, wenn es um die Beschreibung von Ritterturnieren oder rauschenden Festen geht. Mit ihren
für die sinnliche Schönheit wachen Augen nimmt sie die Welt mit allem, was dazugehört, wahr. Sie gibt sich gern dem Genuss
der Farben und Töne hin. Dahinter aber lauert ihr ebenso wacher intellektueller Blick, und das sieht jenseits von Glanz und
Seide das Leid vieler Frauen, die ausgeschlossen sind vom gesellschaftlichen Leben, weil man sie nicht ernst nimmt, weil sieohne Ehemann ein freudloses Dasein fristen, mittel- und schutzlos.
Christine ist voll und ganz eine Frau ihrer Zeit und gleichzeitig eine unerbittliche Kritikerin der Nachteile, die es vor
allem für eine Frau mit sich bringt, in ebendieser Zeit zu leben. Ihr Denken bleibt eingebunden ins mittelalterliche Weltbild
und versucht gleichzeitig, den Blick für Ungerechtigkeiten zu schärfen, das Prinzip Gerechtigkeit stärker ins Blickfeld zu
heben. Hier erkennt sie einen erheblichen Mangel. Sie verwendet die Themen, die Denkformen und die stilistischen Mittel des
14. Jahrhunderts, um Aufschluss zu geben über gesellschaftliche Missstände. Damit erreicht sie wenigstens innerhalb ihrer eigenen
Schicht ein breites Publikum, einfache Frauen aber sind ausgeschlossen von der Lektüre, da sie nicht lesen und schreiben können.
Der Erfolg tut Christine de Pizan gut, persönlich und finanziell, weil sie seit dem Tod ihres Mannes in Geldnöten steckt und
deshalb in Rechtsstreitigkeiten verwickelt ist. Der Rechnungshof schuldet ihrem Mann noch Lohn, der erst nach einundzwanzig
Jahren ausbezahlt werden wird. Sie lebt zurückgezogen und füllt die einsamen Stunden damit, ihr Wissen zu vertiefen. »Ganz
wie ein Mann, der gefährliche Wege gegangen ist und sich umwendet, seine Fußspur betrachtet ... so schlage ich, die Welt betrachtend, die voller gefährlicher Fallstricke ist und in der es nur einen Weg gibt, nämlich
den der Wahrheit, schlage ich den Pfad ein, zu dem mein Wesen neigt, nämlich den des Studiums ...« 3
Christine interessiert sich für Geschichte und Astronomie, für Philosophie und Dichtung. In der Bibliothek Karls V., die sie
benutzen darf, findet
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