Die Einöder
Die erste Vision
Der Einödhof
Zu schwefelfahler Steinwüste unter drückendem, unheilschwangerem Firmament war das ganze Waldgebirge geworden. An den Flanken von Lusen, Rachel und Arber, wo der Wind einst in tiefen Forsten gerauscht hatte, ragten jetzt nur noch schrundige, in ausgelaugtem Sandboden wurzelnde Felsklötze empor. Im Regental, wo der Fluß früher zwischen Wiesenmatten und Auengehölzen mäandriert und die weichgerundeten Findlinge in seinem Bett samtig umspült hatte, schillerten bloß noch hie und da giftgrüne Tümpel. Der Gestank von verrottenden Fischen und Algen peinigte das geschundene Land, wenn ein zielloser Sturmwirbel jäh in dessen Wunden fuhr. Ekelerregende Verwesungsdünste trieben dann in dichten, stechenden Schwaden über das tote Flußtal und verpesteten die Luft. Das gesamte Waldgebirge lag sterbend da; nackte Felsblöcke im sterilen Sand, mit Giftschleim überzogene Tümpel und stinkende Faulgase kündeten von seiner endgültigen Agonie.
Und von diesem Krebsherd im Herzen Europas wucherten die todbringenden Geschwüre weithin in alle Himmelsrichtungen. Nach dem Tod der Bergwälder war die Luft dünn geworden, und auf den Gipfeln des ehemaligen Waldgebirges reichte sie oft nicht mehr zum Atmen aus. An manchen Berghängen zischten zwar noch Quellen zwischen taubem Gestein, doch ihr Wasser versickerte sofort wieder im dürren Sandboden, welcher das Naß nicht festzuhalten vermochte. Längst hatte die Erosion alle Muttererde verschwinden lassen, und so hatte sich das Krebsgeschwür in verheerendem Maße aus breiten können. Seine Metastasen hatten das Lößland entlang des Donaustromes zerfressen, hatten den Schotter in den Tälern von Isar und Inn in schier endlosen, skelettartigen Geröllbänken freigelegt, hatten die kugeligen Hügel Böhmens zu kahler Ödnis gehäutet – und hatten dadurch die Erde im Herzen des europäischen Kontinents und weit darüber hinaus ihrer Fruchtbarkeit und Lebenskraft beraubt.
Längst waren die Menschen aus dem seit Urzeiten besiedelten Land am Lusen, Rachel und Arber geflohen; aus jenen Gegenden, wo sie vor ihrer Flucht oft in panischer Angst nach Luft gerungen hatten, wenn der knappe Sauerstoff von den häufigen sterilen Fallwinden in die Niederungen gepreßt worden war. Nun drängten sich die Menschen verstört in den Tiefebenen zusammen: entlang der Strom- und Flußtäler, in den eingeduckten Senken des verwüsteten Erdbodens. Dort vegetierten sie jetzt in ihren letzten Refugien – und wenn am Himmel über den skelettierten Tälern von Donau, Isar oder Inn die schwefelfahlen Wolkenwülste auseinanderrissen, dann schauten die Menschen angstvoll zu den ausgebluteten Gebirgsketten empor und erinnerten sich mit Beklemmung und Trauer daran, daß sie einst in jenem Bergland heimisch gewesen waren.
Dennoch hatte die ökologische Katastrophe nicht alles Leben in dem ehedem so bevölkerungsreichen Waldgebirge ausgetilgt. Denn am Oberlauf des Schwarzen Regen, nicht sehr weit vom mächtigen Arbermassiv entfernt, war noch ein uraltes Bergbauernanwesen bewohnt. Der aus quarzgeäderten Granitquadern und klobigen Tannenbalken errichtete Einödhof stand auf einer Bodenwelle des Flußtales; seit Jahrhunderten, seit dreizehn Menschenaltern, erhoben sich die Gebäude auf der von der Natur geschaffenen sanften Anhöhe.
Frühlingswinde und Sommerhitze, Herbststürme und Winterfrost waren von Generation zu Generation über das einschichtige Anwesen hinweggezogen; hatten dessen Balkenwerk in der Wärme duften und in der Kälte krachen lassen. Im Frühjahr waren die Schmelzwasser des Flusses manchmal bis nahe an die Grundfesten des Einödhofes vorgedrungen; zur Winterszeit hatten meterhohe Schneelasten den Dachstuhl des Bauernhauses zum Ächzen gebracht. Jahrzehnt um Jahrzehnt, Säkulum um Säkulum war das Anwesen unter dem steten Wechsel von Frühling, Sommer, Herbst und Winter gealtert – doch sein Gestein und Gebälk, von der Zeit zerknirscht und dennoch nicht gebrochen, hatte in schlichter, zeitloser Würde überdauert.
In der ältesten Stube des Bergbauernhofes, wo die wertvollsten, von den Vorfahren ererbten Besitztümer aufbewahrt wurden, gab es ein Schreibbüchlein mit vergilbten Seiten, das noch vom Gründer des Anwesens selbst angelegt und dann von der langen Reihe der ihm nachfolgenden Einödbauern weitergeführt worden war. Der uralte Bucheinband aus dünngeschabtem Schweinsleder war brüchig und hatte sich geworfen; die eine Ecke trug Brandspuren.
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