Denn niemand hört dein Rufen
dachte Emily, als sie den Ordner aufklappte. Der Prozess war auf die kommende Woche angesetzt.
Um Viertel nach elf klingelte ihr Telefon. Ted Wesley, der Staatsanwalt, meldete sich. »Emily, könnte ich Sie einen Moment sprechen?«, fragte er. Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
Der fünfzigjährige Edward »Ted« Scott Wesley, Staatsanwalt von Bergen County, war zweifellos das, was man einen gut aussehenden Mann nennt. Einen Meter fünfundachtzig groß, hatte er eine tadellose Haltung, die ihn nicht nur noch größer erscheinen ließ, sein Auftreten strahlte auch eine Autorität aus, die, wie ein Reporter einmal geschrieben hatte, »auf die guten Menschen beruhigend wirkt und diejenigen in Unruhe versetzt, die aus gutem Grund nachts nicht schlafen können«. Seine dunkelblauen Augen und seine dichten dunklen Haare, in denen sich erste graue Fäden eingenistet hatten, vervollständigten das Bild einer imponierenden Führungspersönlichkeit.
Nachdem sie an die halb offen stehende Tür geklopft und sein Büro betreten hatte, bemerkte Emily zu ihrer Überraschung, dass ihr Chef sie aufmerksam musterte.
Schließlich sagte er knapp: »Hallo, Emily, Sie sehen toll aus. Geht es Ihnen gut?«
Die Frage war nicht einfach nur nebenher gestellt. »Ich habe mich nie besser gefühlt.« Sie versuchte, beiläufig zu klingen, sogar etwas wegwerfend, als wundere sie sich, dass er überhaupt danach fragte.
»Es ist wichtig, dass Sie sich gut fühlen. Die Grand Jury hat Anklage gegen Gregg Aldrich erhoben.«
»Wirklich?« Sie spürte einen Adrenalinstoß. Obwohl sie sicher gewesen war, dass es so kommen würde, war ihr dennoch bewusst, dass sich der Fall zu einem beträchtlichen Teil auf Indizienbeweise stützte und der Prozess mit Sicherheit kein Selbstläufer sein würde. »Es war schwer zu ertragen, wie dieser widerliche Kerl die ganze Zeit die Klatschspalten beherrscht hat und ständig in aller Munde war, und gleichzeitig zu wissen, dass er seine Frau einfach hat verbluten lassen. Natalie Raines war eine so wunderbare Schauspielerin. Immer wenn sie die Bühne betrat, war es reine Magie.«
»Regen Sie sich nicht zu sehr über Aldrichs Gesellschaftsleben auf«, sagte Wesley begütigend. »Sorgen Sie einfach nur dafür, dass er hinter Schloss und Riegel kommt. Der Fall gehört Ihnen.«
Es war genau das, was sie gehofft hatte. Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis sie es begriff. Dies war die Art von Prozess, die ein Staatsanwalt wie Ted Wesley normalerweise für sich reservierte. Er würde mit Sicherheit die Schlagzeilen beherrschen, und Ted Wesley liebte Schlagzeilen.
Er lächelte über ihre Verblüffung. »Emily, was ich Ihnen jetzt sage, muss unter uns bleiben, aber es wurde bei mir vorgefühlt wegen eines höheren Postens, der im Herbst mit der neuen Regierung frei wird. Ich bin daran interessiert, und Nan würde liebend gern nach Washington ziehen. Wie Sie wissen, ist sie dort aufgewachsen. Ich würde ungern mitten in einem Prozess stecken, wenn sich diese Situation ergibt. Deshalb gehört Aldrich Ihnen.«
Aldrich gehört mir. Aldrich gehört mir. Das war die große Herausforderung, auf die sie gewartet hatte, bevor sie vor zwei Jahren aus der Bahn geworfen worden war. Zurück in ihrem Büro, überlegte Emily, ob sie ihren Vater anrufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Er würde sie nur ermahnen, nicht zu viel zu arbeiten. Und das war auch genau das, was ihr Bruder Jack, ein Informatiker, der im Silicon Valley arbeitete, ihr sagen würde, dachte sie, und außerdem war Jack jetzt vermutlich gerade auf dem Weg zur Arbeit. In Kalifornien war es erst halb neun.
Mark, Mark, du wärst so stolz auf mich gewesen …
Sie schloss für einen Moment die Augen, während eine Woge von Sehnsucht sie erfasste, dann schüttelte sie den Kopf und nahm die Lopez-Akte in die Hand. Noch einmal ging sie Zeile für Zeile durch. Beide vierundzwanzig Jahre alt; zwei Kinder; getrennt; er ging zu ihr, um sie zu einem Neuanfang zu überreden; sie stürmte aus der Wohnung und versuchte, auf der Treppe an ihm vorbeizukommen, die Marmorstufen waren reichlich abgetreten in dem alten Gebäude. Er behauptet, sie sei gestürzt. Die Babysitterin, die ihnen gefolgt war, schwört Stein und Bein, er habe sie gestoßen. Aber die Sicht war ihr versperrt, dachte Emily, als sie sich die Bilder von dem Treppenhaus genauer ansah.
Das Telefon klingelte. Joe Lyons war dran, der Pflichtverteidiger, der Lopez zugeteilt worden war. »Emily,
Weitere Kostenlose Bücher