Weltenende (German Edition)
PROLOG
„Bist du bereit?“ Die sonore Stimme drang kaum an sein Ohr. Ludwig streifte die Ärmel von Jonas Mantel hoch, bis die Handgelenke frei lagen. Die rauen Finger des Priesters bereiteten dem Jungen eine Gänsehaut.
„Was ist, wenn ich der F alsche bin?“
„ Wir haben uns noch nicht oft geirrt.“
„ Aber es ist schon passiert?“
„ Alles ist schon mal passiert. – Wir müssen uns beeilen, Jonas, der richtige Zeitpunkt ist nah!“
Die Fackeln brannten knisternd. Fahnen aus öligem Gestank wehten über den Platz. Über der östlich gel egenen Hügelkette stieg ein roter Mond aus der Erde, während die Sonne im Westen im Meer verglühte. Eine einzelne Fanfare spielte getragene Töne, die schluchzend über den weiten Platz trugen und von den Felsen im Osten widerhallten. Unterbrechungslos lief die Melodie auf einen Höhepunkt zu. Der Spieler musste einen unmenschlich langen Atem haben. „Wir warten auf den Neuen“, flüsterte der Priester leise. Er war auf die Seite getreten.
Jonas atmete tief ein. Er ließ die Ärmel des Umhangs wieder hinunterrutschen und verschränkte die Hände, wie Ludwig es ihm gezeigt hatte. Leise rezitierte er die Worte, die das Ritual einläuteten. Sie waren in der alten Sprache, in der einst Gott selbst die Welt erschaffen hatte. Machtvolle Worte, die sonst nur noch in Himmel und Hölle selbst Gehör fanden.
Die Fanfarenmelodie änderte sich, stieg aus der Höhe in bedrohliche Tiefen. Aus den Fackeln im Kreis stieben Funken wie kleine Glühwürmchen in den Himmel. Jonas konnte die Zeugen sehen, die rundherum auf ihn warteten. Es waren alte und junge, dunkel- und hellhäutige, große und kleine, manche von ihnen noch Kinder, die in Begleitung ihrer Eltern waren. Sie kamen aus dieser und aus anderen Zeiten, von dieser Welt und von anderen.
Jonas überschritt die Grenze zu dem Kreis und ab diesem Augenblick nahm alles seinen vorherbestimmten Lauf. Es fand zu allen Zeiten, auf immer die gleiche Art und Weise auf immer demselben Platz statt. Hier war es möglich, dass Licht und Schatten sich trafen, das Hölle und Himmel zusammenkamen, denn nur hier blieb der sonst unausweichliche Kampf aus.
Mit jedem Schritt wurden Jonas Schritte leichter. Die dünnen Schuhe sogen die Feuchtigkeit des Grases auf, aber das merkte er kaum. Er spürte nur den Wind, der ihm entgegenschlug. Ich bin Teil des Lichts, geboren im Dunkel, auferstanden in der Dämmerung, gesehen vom Mond und vom Schatten … Wie oft in den letzten Monaten hatte er schon über die Worte nachgedacht und ihren Sinn nicht zu verstehen vermocht. Jetzt, mit dem aufgehenden Mond, umgeben von Dunkelheit und Licht verstand er sie. Es war die Zeremonie selbst, die beschrieben wurde.
Die Fanfare hielt inne , als Jonas den Steinkreis in der Mitte erreichte. Die Zeugen wiederholten die Worte des Initiationsritus und der Priester hob die Hände gen Himmel. Er sprach leise, aber Jonas verstand jedes einzelne Wort; sie alle hörten ihn, als spräche er direkt in ihren Köpfen.
Ein grelles Licht stieß von oben herab. Jonas wurde heiß und kalt zugleich, er taumelte. Beinahe vergaß er die linke Hand mit der Handfläche nach oben auf den Stein zu legen, direkt ins Zentrum des hellen Lichts. Er war so hell, dass er die Augen zu schmalen Schlitzen zukneifen musste, als schaute er direkt in die gleißende Sonne. Nur noch undeutlich nahm er die Umrisse des Priesters wahr und doch schien seine Gestalt so dunkel wie zuvor, obwohl er im Kreis des Lichts stand. Die Haut seines Handgelenkes riss auf, veränderte sich, Blut sprudelte heraus, lief über den Stein. Es schien zu kochen und so fühlte es sich für Jonas auch an. Das Blut veränderte sich, bildete Blasen und wurde silbern, hell als leuchtete aus sich heraus. Es bildete die Form eines gleichmäßigen Achtecks, an dem die seitlichen Ecken durch die Mitte miteinander verbunden waren. Es war das Symbol des Lichts und des Schattens. Rechts der Schatten, Links das Licht, oben der Himmel und unten die Hölle, unvereinbar, symbolisiert durch die fehlende Verbindungslinie. Das Silber löste sich auf, wurde gläsern und schimmerte bald wie flüssiges Metall.
Der Priester ergriff Jonas Hand und hielt sie in eisernem Griff im Licht. Die Worte festigten die Verwandlung, brannten das Zeichen in Jonas Fleisch. Die Schmerzen lösten Panik aus. Instinktiv wollte er die Hand zurückziehen, aber der Priester hielt sie wie in einem Schraubstock. Die Schmerzen waren stärker als alles, was Jonas
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