Der 13. Engel
Vorbereitungen für das Frühstück. Gerade als sie mit Tischdecken fertig war, gab der Wasserkessel ein schrilles Pfeifen von sich. Sie schlang ein Handtuch um den heißen Henkel und goss das dampfende Wasser in die vorbereitete Teekanne. Fertig. Jetzt musste sie nur noch ihren Vater wecken.
Amy wollte bereits nach oben stürmen, als ihr Blick auf den Brief fiel, der an der Plätzchendose lehnte. Er steckte in einem ganz gewöhnlichen Umschlag, dennoch schien er von einer Aura aus Niedertracht und Boshaftigkeit umgeben zu sein. Ob das an der Handschrift der Absenderin lag? Die Buchstaben aus schwarzer Tinte wirkten so spitz und scharfkantig, dass man meinen konnte, sich an ihnen verletzen zu müssen, wenn man nur darüberstrich. Amy erschauderte. Der Brief stammte von Tante Hester. Sie hatte ihn vor zwei Tagen mit einem Boten geschickt, um ihren Besuch für heute anzukündigen.
Was will sie bloß von uns?, fragte sich Amy.
Tante Hester war der einzige Mensch auf der Welt, der niemals gute Laune hatte. Sie lächelte nie – außer, wenn sie sich am Leid oder über das Missgeschick eines anderen freuen konnte. Amy hatte sie zuletzt vor fünf Jahren gesehen. Auf der Beerdigung ihrer Mutter. Damals hatte es einen heftigen Streit zwischen Tante Hester und Amys Vater gegeben, weil sie ihn für den Tod ihrer Schwester verantwortlich machte. Dabei war es ein Unfall gewesen. Während eines Badeausflugs an der See war Amys Mutter von einer gefährlichen Welle erfasst und hinaus ins offene Meer getragen worden. Stundenlang hatten sie verzweifelt nach ihr gesucht. Aber Tante Hester hatte Amys Vater noch nie leiden können und darum wollte sie ihm ganz einfach die Schuld geben – ob es nun gerechtfertigt war oder nicht.
»Du bist heute aber früh auf.«
Amy fuhr erschrocken herum.
Im Eingang zur Küche stand ihr Vater, ein hagerer Mann mit angegrauten Schläfen und blassblauen, fast schon türkisfarbenen Augen. Wann immer Amy in diese Augen blickte, verwirrten und faszinierten sie sie zugleich. Eine geheimnisvolle Traurigkeit glomm in ihnen. Wie bei jemandem, der mehr von den schlimmen Dingen dieser Welt gesehen hatte, als gut für ihn war. Amy hatte die gleichen Augen. Nur strahlten ihre noch Offenheit und Zuversicht aus.
Beim Anblick des gedeckten Tisches zog ihr Vater erstaunt eine Braue hoch. »Warum hast du dir nur so viel Arbeit gemacht? Das hätte ich doch erledigen können.«
Amy verdrehte die Augen. »Ich weiß, Papa, aber ich mache es gerne.«
Sie setzten sich an den Tisch und Amy schenkte sich ein Glas Milch ein.
»Mhm, Pfefferminztee«, sagte ihr Vater, der an der Teekanne geschnuppert hatte. Er goss sich eine Tasse ein und gab Zucker dazu. »Wo ist denn mein Löffel?«
»Oh, den hab ich vergessen.« Amy wollte schon aufspringen, doch sie war zu langsam. Ihr Vater wackelte kurz mit dem rechten Zeigefinger, woraufhin sich eine Schublade in dem Schrank hinter Amy öffnete und einen silbernen Löffel ausspuckte. Mit einem Klirren landete er auf dem Unterteller der Teetasse ihres Vaters.
Amy saß mit vor der Brust verschränkten Armen da und starrte ihn säuerlich an.
»Tut mit leid, Schätzchen«, sagte ihr Vater, als er ihren Blick bemerkte. »Ich weiß, dass du die Zauberei nicht magst. Aber so ging es einfach schneller.«
»Wozu?«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Was meinst du?«
»Es ist Sonntag und wir haben alle Zeit der Welt«, sagte Amy. »Was hätte es da ausgemacht, wenn du einen Augenblick länger auf deinen Löffel gewartet hättest?«
»Hm, ja, du hast recht, das war unhöflich von mir.« Er lächelte entschuldigend. »Du hast heute den Tisch gedeckt, also gelten auch deine Regeln. Keine weitere Zauberei. Versprochen!« Nachdem er sich ein Brot geschmiert hatte, sah er wieder auf. Ein Schatten lag auf seinem Gesicht. »Tante Hester besucht uns ja heute. Ich hatte es fast vergessen.«
»Was sie wohl will?«
Ihr Vater zuckte die Achseln. »In ihrem Brief hat sie darüber nichts geschrieben. Nun, vielleicht kommt sie, um Frieden mit uns zu schließen.« Amy schnaubte, was ihren Vater zum Lachen brachte. »Ehrlich gesagt, kann ich mir das bei Tante Hester auch nicht vorstellen«, sagte er.
»Wir könnten einfach so tun, als wären wir nicht zu Hause«, schlug Amy vor.
»Dann wären wir nicht besser als sie.« Ihr Vater nahm einen Schluck von seinem Tee. »Hören wir uns erst einmal an, was sie zu sagen hat. Anschließend können wir sie immer noch rausschmeißen.« Er zwinkerte
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