Der 13. Engel
dass die Dinge richtig gemacht werden, erledigt man sie am besten persönlich.« Sie deutete auf Amys Koffer. Mit einem Ruck befreite er sich aus ihrer Umklammerung und schwebte zur Garderobe.
»Das hätte ich auch selber machen können«, sagte Amy und erntete dafür ein herablassendes Lächeln von ihrer Tante. »Ja, natürlich.«
Amy wurde rot. »Ich meine, ich hätte den Koffer hintragen können. Die Garderobe ist nur drei Schritte entfernt.«
»Deine Gegenwart ist mir auch so schon unangenehm genug, ohne dass ich mir von dir deine Unfähigkeit ständig vor Augen halten lassen muss«, erwiderte Tante Hester und schritt durch den Flur davon. »Wo bleibst du denn?«, rief sie, ohne überhaupt nachgesehen zu haben, ob ihre Nichte ihr nicht bereits folgte.
Amy starrte ihr wütend und traurig zugleich nach. »Vielleicht hält es auch einfach niemand mit dir aus und deshalb wohnst du ganz alleine hier!«, hätte sie ihrer Tante am liebsten hinterhergeschrien.
Kurze Zeit später saßen sie im Wohnzimmer und Tante Hester erklärte ihr die Hausregeln. Die erste und wichtigste lautete, dass Amy niemals alleine das Haus verlassen durfte. Zweitens war es ihr verboten, außerhalb der Küche oder des Esszimmers zu essen, es sei denn, ihre Tante ordnete es an. Und auf den Vitrinenschränken und den Fenstern hatten weder Nasen- noch Fingerabdrücke etwas zu suchen. Überhaupt sollte Amy am besten für alles um Erlaubnis fragen. Selber wenn sie nur in den Garten gehen wollte. Amy seufzte in sich hinein. Warum sperrte ihre Tante sie nicht gleich in eine Besenkammer und warf den Schlüssel fort?
Im nächsten Moment tat Tante Hester etwas, das so gar nicht zu ihr passen wollte: Sie zauberte ein Fotoalbum herbei. Darin befanden sich viele Schwarz-Weiß-Bilder von ihr und Amys Mutter. Und dann sagte ihre Tante das erste und einzige Mal in ihrem Leben etwas Nettes zu Amy. »Dieses Foto zeigt deine Mutter, als sie in deinem Alter war. Ich hatte ganz vergessen, wie ähnlich ihr euch seid. An dem Tag, als das Foto gemacht wurde, unternahmen wir einen Ausflug …« Sie brach mitten im Satz ab. »Ist ja auch egal.« Die Wärme, die ihrer Stimme einen Moment lang Leben eingehaucht hatte, war wieder erloschen.
Amy hätte gerne noch mehr über die Kindheit ihrer Mutter erfahren, wusste jedoch, dass es zwecklos gewesen wäre, zu fragen.
Tante Hester schnippte mit den Fingern, damit die nächste Seite aufschlug. »Das sind deine Mutter und ich als junge Frauen.« Sie sagte das in einem Tonfall, als verlese sie eine Anklage. »Sieh nur, wie sie lächelt. Damals war sie noch glücklich – und dann traf sie deinen Vater, diesen Versager.«
Amy glaubte sich verhört zu haben. »Mein Vater ist kein Versager«, sagte sie aufgebracht.
»Und warum sitzt er dann im Gefängnis?«
Amy presste die Lippen zusammen, damit ihr nicht die Worte entschlüpften, die ihr auf der Zunge brannten. Doch plötzlich runzelte sie die Stirn. Ja, warum war ihr Vater überhaupt verhaftet worden? Der Polizist hatte zwar etwas von Hochverrat gesagt, aber nicht, was genau er getan haben sollte. »Wann kann ich meinen Vater besuchen?«, fragte Amy, die plötzlich das Gefühl hatte, unbedingt mit ihm reden zu müssen.
Tante Hester gab ein Glucksen von sich, als hätte ihre Nichte etwas besonders Komisches gefragt. »Überhaupt nicht.«
»Aber …«
»Du kannst dir ja wohl denken, dass seine Gerichtsverhandlung nicht beginnen wird, bevor die Krönungsfeierlichkeiten vorüber sind. Das ist das Einzige, was die Menschen in dieser Stadt im Moment interessiert«, erklärte Tante Hester in bissigem Tonfall. »Bis dahin darf er auch keinen Besuch empfangen.«
»Woher willst du das wissen?«, protestierte Amy. »Wir haben es nicht einmal versucht.«
»Weil es zwecklos wäre.«
Amy reckte angriffslustig das Kinn vor. »Das sagst du nur, weil du ihn nicht magst!«
»Weißt du was, Kind? Du hast recht. Und wie recht du hast. Aber das hat nichts damit zu tun, dass auch ich nichts an unseren Gesetzen ändern kann.« Tante Hesters Mundwinkel zogen sich zu einem gehässigen Lächeln auseinander. »Und selber wenn ich es könnte, würde ich meinen Einfluss nicht an jemanden wie ihn verschwenden.«
Amy sprang so plötzlich auf, dass ihr Stuhl nach hinten wegkippte. Polternd schlug er zu Boden. »Ich hasse dich!«
Tante Hester erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl. Ihre rechte Braue war ein Stück nach oben gerückt und nun blickte sie voller Verachtung auf Amy herab. »Du bist
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