Der 7. Lehrling (German Edition)
Elternhaus.
#
Quentin war ein Junge mit ständig zerrissenen Hosen, aufgescheuerten Knien, dreckigen Fingernägeln, und das Ganze natürlich nicht unbedingt zur Freude seiner Mutter. Aber es gab ja auch so viel zu entdecken! Überall konnten Schätze versteckt sein, einmal hatten sie sogar eine alte Münze gefunden! Quentin zog ständig mit Simon, seinem bestem Freund, durch das Dorf und den angrenzenden Wald. Wenn sie nicht gerade auf Schatzsuche waren, angelten sie am Bach, schwammen im See und taten auch sonst alles, was Jungs Spaß macht.
Mit den anderen Kindern im Dorf hatten Quentin und Simon nicht viel Kontakt. Die fanden ihn „komisch“, nannten ihn „Spinner“. Dabei fand er sich eigentlich ganz normal. Bis auf die Sache mit den Geschichten. Das konnten die anderen irgendwie nicht. Nicht Geschichten erzählen, sondern das, was passierte, wenn Quentin Dinge berührte. Dann erzählten ihm die Dinge ihre eigene Geschichte.
Wenn er einen Stein auf dem Weg berührte, wusste Quentin plötzlich, aus welchem Steinbruch er kam. Wie er aus dem Felsen gehauen wurde und wie er dann auf dem Weg gelandet war.
Wenn er einen Nagel berührte, erzählte ihm dieser seine Geschichte. Wie er geschmiedet worden war. Dass er vielleicht einmal ein Hufeisen an einem Reitpferd festgehalten hatte.
Zuerst hatte Quentin gedacht, ihm würde das alles einfach nur einfallen. Zuerst hatten die anderen Kinder auch immer gelacht. Die Erwachsenen hatten gesagt, er habe „eine blühende Fantasie“. Aber Quentin merkte immer deutlicher, dass er nicht fantasierte, sondern tatsächlich etwas besaß, was die anderen nicht hatten.
Und als er immer wieder Dinge erzählte, die tatsächlich wahr waren, die er aber nie und nimmer wissen konnte, zogen sich die Kinder – meist auf Geheiß ihrer Eltern – mehr und mehr von ihm zurück.
Da war zum Beispiel die Sache mit dem Bilderrahmen im Haus des Schusters. Der umrahmte ein Bild von einem bunten Blumenstrauß. Als Quentin ihn berührte, wusste er sofort, dass früher einmal das Bild von der Mutter des Schusters darin gehangen hatte. Der Schuster staunte nicht schlecht, als Quentin ihn neugierig fragte, was er denn mit dem Bild seiner Mutter gemacht habe.
Es dauerte nicht sehr lange, da wurden seine Eltern von den Nachbarn gemieden. Das war besonders deshalb schlecht, weil sein Vater eine Mühle hatte und für die Bauern das Korn mahlte. Das Geschäft ging immer schlechter. Im Dorf wurden schon Worte wie „die Hexenmühle“ hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Schon zweimal hatte irgendjemand versucht, die Mühle anzustecken. Zum Glück hatte die Familie das Feuer jedes Mal rechtzeitig bemerkt, sonst wäre alles niedergebrannt.
Simon war das mit den Geschichten egal. Er hatte viel Spaß mit Quentin. Vielleicht hätten die anderen Kinder das ja auch gern gehabt, aber sie hatten nun mal Eltern, die sagten: „Spiel nicht mit Quentin, der ist komisch, der passt nicht hierher!“
Bei Simon war das anders. Er wohnte beim Gastwirt in der Dorfschänke. An seine Eltern konnte er sich kaum noch erinnern. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, und sein Vater war eines Tages vom Bäumefällen im Wald nicht mehr zurückgekommen. Da hatten ihn die Wirtsleute bei sich aufgenommen. Er musste natürlich in der Wirtschaft helfen, aber das war für ihn eher ein Spaß als eine Arbeit. Jedenfalls sagten der Wirt und seine Frau nichts zu Quentins Geschichten.
Simon zog Quentin sogar manchmal damit auf. Wenn die beiden auf ihren Entdeckungsreisen an einem Wegstein vorbeikamen, sagte Simon zum Beispiel: „Quentin, fass doch mal den Stein da an! Ich würd’ gern wissen, wann der Marketender mit den süßen Sachen wieder ins Dorf kommt!“
Dann kam der schlimmste Tag in Quentins Leben. Sein Vater nahm ihn beiseite und sagte mit sorgenvollem Blick: „Mein Junge, Deine Geschichten machen uns das Leben immer schwerer. Wir haben bald keine Arbeit und auch kein Essen mehr, weil die Leute nicht mehr zu uns kommen. Wir müssen aber doch essen und trinken! Es ist einfach so: Du machst den Leuten Angst mit diesen Geschichten. Der Himmel allein weiß, wie Dir immer solche Sachen einfallen! Du kannst wohl nichts dafür, aber Du bist irgendwie anders als die anderen. Und die Leute mögen es nicht, wenn jemand anders ist. Quentin, Du bist jetzt alt genug, um bei einem Handwerksmeister in die Lehre zu gehen. Es zerreißt mir das Herz, Dich fortzuschicken, aber es ist für uns alle besser,
Weitere Kostenlose Bücher