Augenblicke Der Geschichte - Das Mittelalter
GOTT IN PADERBORN
König Karl, den man einmal den Großen nennen wird, errichtet im 8. Jahrhundert nach Christus ein fränkisches Großreich. Er erringt damit die Vormachtstellung in Europa und verbreitet in dieser Zeit das Christentum bis weit in den Norden und Osten der bezwungenen Gebiete. Im Jahre 799 ist auch das mächtige Volk der Sachsen von Karl bis auf kleinere Widerstandsnester niedergerungen.
Massenhaft lässt König Karl die Besiegten taufen, umsiedeln, ins Kloster stecken oder gar umbringen und festigt auf diese Weise seine neu gewonnene Macht. Dem früheren Glauben anzuhängen, ist von nun an strikt untersagt - doch heimlich und im Verborgenen halten viele dennoch an den alten Göttern fest.
König Karl herrscht mit diesem Sieg nunmehr endgültig über ganz Mitteleuropa: Die Völker und Stämme von der Elbe bis hinab nach Rom sind in seiner Gewalt, und der König der Franken gerät bereits in Konflikt mit dem Beherrscher des Ostens, dem Kaiser von Konstantinopel. Wer wird der künftige Herrscher der Welt? Da geschieht Seltsames zuerst in Rom und dann weitab hinter Bergen und Wäldern an der Grenze zu Sachsen in Paderborn.
D er Mann, den wir mitsamt seinen wenigen Begleitern am Rhein abholen mussten und den wir nun zum Palast König Karls nach Paderborn geleiten sollen, muss Furchtbares erlebt haben: Er hat frische Narben im Gesicht, die schlecht heilen. Sie sind mir sofort aufgefallen, als wir ihn von den Männern seines vorherigen Geleits übernommen haben - übrigens hätte er ein König sein können, mit solcher Ehrfurcht wurde er behandelt! Wir haben den Befehl, ihn unter Einsatz unseres Lebens zu beschützen, denn er steht unter der besonderen Huld unseres Herrschers. Dieser Befehl ist eine große Ehre für uns.
Freilich, man will wissen, mit wem man es zu tun hat!
Die Narben sind an beiden Augen. Schräg oberhalb des linken Auges wie von einem sehr unsicher geführten Stich. Am rechten Auge muss mehrfach zugestochen worden sein - bis hinab zum Wangenknochen ist das Messer gerutscht.
Die Unterlippe des Mannes ist auf der linken Seite aufgeschlitzt und tief verschorft, und an seinem Kinn sind noch zwei kleinere Narben. Wenn er spricht, so ist seine Zunge seltsam schwer; er wäre sicher kaum zu verstehen, auch wenn er fränkisch oder sächsisch reden würde. Aber es ist lateinisch, sagen die anderen - ich verstehe kein Wort.
Auch seine Zunge ist verletzt.
Wenn ich im Wald bestimmte Spuren sehe, sage ich: Hier war eine Bärin, sie ist so und so alt und hat zwei Junge. Oder ich sage: Hier war ein Urstier oder ein Luchs oder ein Reh oder ein Hirsch und dergleichen.
Die Zeichen sind klar, deshalb sage ich: Der Mann muss angegriffen worden sein, und zwar mit einem Messer - und von mehreren Männern. Denn einer hat das Messer geführt und hat zugestochen, aber andere haben den Mann dabei festgehalten. Sie haben sich gegenseitig behindert, habe ich mir überlegt; oder sie hatten nicht genügend Zeit oder Raum für ihre Tat: Deshalb waren die Stiche nicht gezielt genug. Der Mann ist natürlich ausgewichen - würde jeder tun.
Getötet werden sollte er aber nicht, sonst wären die Narben nicht im Gesicht, sondern am Hals oder auf der Brust. Ich habe einmal seinen Oberkörper gesehen, als er sich gewaschen hat - keine Narben, auch keine alten. Die Wunden sind auch nicht von einem offenen Kampf; er ist überfallen worden.
Wozu? Ich habe lange nachgedacht. Seine Verwundungen lassen nur eine Erklärung zu: Sie wollten ihm die Augen ausstechen und die Zunge herausschneiden.
Weshalb?
Das ist eine sehr große und sehr schwere Frage - blenden allein genügt doch eigentlich. Er ist ja dann so gut wie tot.
Warum ihm auch noch das Wort nehmen?
Oder warum haben sie ihn nicht gleich umgebracht? Auch diese Frage lässt sich nur sehr schwer beantworten. Aus irgendeinem Grunde sind sie davor zurückgeschreckt - aber warum? Blenden und Die-Zunge-Abschneiden ist doch viel schlimmer als Töten.
Und wenn sie es einmal versucht haben, ihm Auge und Zunge zu nehmen, versuchen sie es jederzeit wieder!
Schrecklicher Gedanke! Deshalb habe ich immer meinen kleinen Hammer aus Silberblech bei mir. Der Hammer ist das Zeichen unseres alten Gottes Donar, des großen Donnerers, der die Menschen vor Schaden bewahrt. Zwar ist er längst entmachtet von dem neuen Gott Jesus Christus, der es mit den Franken hält und unsere alten Götter besiegt hat. Dennoch ist mir nie etwas zugestoßen, was mit dem Unglück dieses Fremden
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