Der Abschiedsstein: Das Geheimnis Der Grossen Schwerter 2
während Geloës Blick die Aufmerksamkeit auf sich zog wie ein Pfeil, der auf gespannter Bogensehne bebt, schaute das kleine Mädchen starr ins Nichts, und ihr Blick war ziellos wie der eines blinden Bettlers.
»Leleth und ich sind gekommen, um uns Euch anzuschließen«, erklärte Geloë, »und Euch, wenn Ihr es erlaubt, zu führen, wenigstens für kurze Zeit. Wenn Ihr versucht, diesen Berg zu ersteigen, werden einige von Euch sterben. Keiner wird den Gipfel erreichen.«
»Was wisst Ihr davon?«, fragte Isorn. Er sah verwirrt aus, und damit war er nicht der Einzige.
»Dies. Die Nornen haben nicht den Wunsch, Euch zu töten – das ist offensichtlich, sonst wäre ein Häuflein wie das Eure, zu Fuß, nicht ein Zehntel so weit ins Innere des Waldes gelangt. Erreicht Ihr jedoch die andere Seite dieses Berges, so kommt Ihr in ein Gebiet, in das die Hikeda’ya Euch nicht folgen können. Wenn nun solche unter Euch sind, die sie nicht lebend brauchen – und bestimmt seid Ihr nicht alle für sie von Wert, sofern das überhaupt der Grund dafürist, dass die Nornen Euch so weit haben vordringen lassen –, so werden sie das Risiko auf sich nehmen, die Entbehrlichen umzubringen, um die Übrigen vom Hang zu vertreiben.«
»Und was wollt Ihr uns damit sagen?«, fragte Josua und trat vor. Ihre Blicke prallten aufeinander. »Hinter diesem Berg sind wir in Sicherheit, aber wir dürfen nicht dorthin gehen? Sollen wir uns denn hinlegen und sterben?«
»Nein«, versetzte Geloë gelassen. »Ich habe nur gesagt, dass Ihr nicht auf den Berg steigen sollt. Es gibt andere Wege.«
»Fliegen?«, knurrte Einskaldir.
»Manche tun das.« Sie lächelte wie über einen Scherz, den nur sie verstand. »Doch alles, was Ihr zu tun braucht, ist, uns zu folgen.« Sie griff wieder nach der Hand des Mädchens und setzte sich, am inneren Rand des alten Flussbetts entlang, in Bewegung.
»Wohin geht Ihr?«, rief Deornoth und fürchtete sich plötzlich davor, zurückgelassen zu werden, als die beiden allmählich im Schatten des Zwielichts verschwanden.
»Folgt mir!«, rief Geloë über ihre Schulter zurück. »Die Nacht bricht bald an.«
Deornoth drehte sich und schaute Josua an, aber der Prinz war bereits dabei, Herzogin Gutrun aufzuhelfen. Während die Übrigen hastig ihre Besitztümer zusammenrafften, ging Josua rasch zu der sitzenden Vara hinüber und streckte ihr die Hand entgegen. Sie kümmerte sich nicht darum und stand auf, um dann mit hocherhobenem Haupte, wie eine Königin im Festzug, den Graben entlangzuschreiten. Die anderen hinkten hinterher und flüsterten müde miteinander.
Endlich blieb Geloë stehen, um auf die Nachzügler zu warten. Leleth an ihrer Seite starrte voller Unruhe in den Wald hinaus, als erwarte sie jemanden.
»Wohin gehen wir?«, fragte Deornoth, der sich mit Isorn ein wenig ausruhte und den schleimigen Lehm des Bachbetts von seinen Stiefeln kratzte. Der Harfner Sangfugol, der nur gehen konnte, wenn er an beiden Armen gestützt wurde, saß einen Augenblick allein da. Er atmete schwer.
»Wir verlassen den Wald nicht«, erläuterte die Zauberfrau undbeobachtete das Fleckchen Purpurhimmel, das durch die Weidenzweige schimmerte. »Aber wir gehen unter dem Berg durch, in einen Teil des alten Waldes, den man einst Shisae’ron nannte. Wie ich schon sagte, werden die Hikeda’ya uns dorthin vermutlich nicht folgen.«
»Unter dem Berg durch? Was soll das heißen?«, wollte Isorn wissen.
»Wir laufen durch das Bett des Re Suri’eni, eines uralten Flusses«, sagte Geloë. »Als ich zum ersten Mal hierherkam, war der Wald ein Gebiet voller Leben, nicht das dunkle Gewirr, das er jetzt ist. Dieser Fluss war einer von vielen, die die großen Wälder durchströmten und alle möglichen Dinge und Geschöpfe von Da’ai Chikiza zum hohen Asu’a brachten.«
»Asu’a?« , fragte Deornoth staunend. »War das nicht der Name der Sithi für den Hochhorst?«
»Asu’a war mehr, als der Hochhorst jemals sein wird«, erwiderte Geloë streng und suchte mit dem Blick den Letzten der auseinandergezogenen Reihe. »Manchmal seid ihr Menschen wie Eidechsen – die sich auf den Steinen eines verfallenen Hauses sonnen und dabei denken: ›Was hat man uns da doch für einen schönen Platz zum Sonnenbaden gebaut‹. Ihr steht im traurigen Schlamm eines einstmals breiten, wunderschönen Flusses, auf dem die Boote der Alten dahintrieben und an dessen Ufern Blumen wuchsen.«
»Das hier war ein Feenfluss?« Isorns Aufmerksamkeit war abgeschweift.
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