Der Agent - The Invisible
Prolog
Karakorum-Highway, Pakistan
Selbst durch das gesprungene Fenster des alten Busses, der bergab von Kaschgar nach Islamabad fuhr, fand Rebeka Česnik die Aussicht hinreißend. Perfekt. Atemberaubend, in jeder Hinsicht. Dies waren die Worte, mit denen sie bisher jede ihrer Reisen charakterisiert hatte, und die enthusiastischen Kommentare brachten ihre Freunde und Verwandten zum Lächeln. Warum das so war, hatte sie erst nach einer ganzen Weile herausgefunden.
Schließlich hatte ihre Mutter sie in den Grund der allgemeinen Erheiterung eingeweiht, vor einigen Jahren, kurz nachdem es ihr gelungen war, bei der Agentur Frommer’s einen Posten als Reisefotografin zu bekommen. Damals hatte sie die Beobachtung nicht nur zutreffend, sondern auch amüsant gefunden. Selbst jetzt musste sie lächeln, wenn sie daran dachte, doch sie konnte nicht leugnen, dass es so war.
Gut, dass du Fotografin und nicht bei der schreibenden Zunft bist. Wo du auch warst, deine Worte sind immer dieselben. Jeder neue Ort ist genauso atemberaubend wie der letzte.
Vermutlich hatte sie recht, dachte Rebeka, die nie eingehender über die unzulängliche Variabilität ihres Sprachgebrauchs nachgedacht hatte. Sie interessierte sich nur fürs Reisen und die Fotografie, und zu ihrer großen Befriedigung war es ihr gelungen, mit beidem ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Schon immer hatte sie das Talent besessen, bezwingende, einzigartige
Fotos zu schießen, doch das reichte ihr nicht. Auch genügte es ihr nicht, ihre äußerst anspruchsvollen Auftraggeber zu befriedigen. Ihr eigentliches Ziel war es, die Leser den Text vergessen zu lassen, sie ganz in den Bann ihrer Fotografien zu ziehen. Das war keine Kleinigkeit, denn die Magazine, für die sie arbeitete, beschäftigten einige der besten Schreiber, die in diesem Geschäft zu haben waren. Außerdem schien es ihr fast unmöglich, die überwältigenden Eindrücke, denen sie ständig ausgesetzt war, wirklich adäquat einzufangen. Wenn man allerdings die Lobeshymnen und Preise bedachte, die sie im Verlauf einer kurzen Karriere eingeheimst hatte - unter anderem 2006 den renommierten Hasselblad Award -, konnte kein Zweifel bestehen, dass sie sich in einer Branche etabliert hatte, in der es von begabten Konkurrenten nur so wimmelte - eine beachtliche Leistung.
Für ihren gegenwärtigen Beruf hatte sie sich entschieden, nachdem sie im Alter von siebzehn Jahren einige kleinere Fotowettbewerbe gewonnen hatte. Begonnen hatte alles im Jahr 2002, mit einer gebrauchten Minolta Dynax 8000i. Die Kamera war das Geschenk eines verwöhnten Cousins, der sich kostspieligeren Hobbys zuzuwenden gedachte, und sie hatte sich sofort in die Minolta verliebt. Ihre Reiselust reichte allerdings bis in ihre Kindheit zurück, und manchmal fragte sie sich, warum es so lange gedauert hatte, aus ihren beiden Lieblingsbeschäftigungen einen Beruf zu machen. Das war ihr jetzt auf spektakuläre Weise gelungen. Sie war an den Ufern des Flusses Soča in den Julischen Alpen aufgewachsen, in der Nähe des berühmten Schlosses Predjama, und für sie ließen sich sowohl ihr nie erlahmendes Interesse an der Natur als auch ihre damit verbundene Reiselust auf die überwältigenden Landschaftseindrücke ihrer Kindheit zurückführen.
Im letzten Jahr hatte sie Frommer’s verlassen, und seitdem arbeitete sie als Freelancer, unter anderem für Time, Newsweek, Le Monde, National Geographic und Naša žena , die in ihrem Heimatland Slowenien erschien. Diese Aufträge hatten es ihr ermöglicht, in zwei kurzen Jahren vierzehn Länder zu sehen. Zwölf hatte sie schon zuvor besucht. Sie dokumentierte ihre Reisen minuziös - nicht nur mit der Kamera, sondern auch durch das Führen eines Tagebuchs, das sie als ihren wertvollsten Besitz sah. Jeder neue Auftrag war ein neues Abenteuer, doch als sie jetzt aus dem Fenster blickte, ohne auf das unangenehme Schaukeln des Busses auf der steilen Bergstraße zu achten, musste sie zugeben, dass die Schönheit der schneebedeckten, über dem Hunza-Tal aufragenden Gipfel ihre kühnsten Erwartungen übertraf. Früher am Tag hatte es einen kurzen Schauer gegeben, doch jetzt war der Himmel makellos blau, und die nachmittägliche Sonne verlieh den verschneiten Gipfeln einen Zauber, den auf einem Foto einzufangen völlig unmöglich schien. Es kam nicht oft vor, doch zuweilen wurde ihr klar, dass die Schönheit einer Landschaft sich der Fixierung auf Film entzog. Das war schwer zu akzeptieren, und diese Momente waren
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