Der Alchimist
korrektes und ehrbares Leben geführt hatte, kam er sogleich in den Himmel und begegnete dem Engel, den schon von seinem Traum her kannte.
>Du warst ein guter Mensch<, sagte der Engel. >Du h ast dein Leben in Liebe gelebt und bist mit Würde gestorben. Nun kann ich dir einen beliebigen Wunsch erfüllen.< >Das Leben war auch gut zu mir<, entgegnete der Alte. >Als du mir seinerzeit im Traum erschienst, fühlte ich, daß alle meine Bemühungen belohnt würden, weil die Gedichte meines Sohnes noch in den kommenden Jahrhunderten bekannt sein werden. Für mich persönlich habe ich keinen Wunsch, aber jeder Vater wäre stolz auf den Ruhm seines Kindes, das er aufgezogen hat. Ich würde gerne - in ferner Zukunft - die Worte meines Sohnes hören.< Der Engel berührte ihn an der Schulter, und beide wurden sie in eine ferne Zukunft versetzt. Um sie herum war ein großer Platz mit Tausenden von Menschen, die in einer fremden Sprache redeten. Der Alte weinte vor Glück.
>Wußte ich doch, daß die Verse meines Sohnes gut und unsterblich waren<, sagte er gerührt zu dem Engel. >Gerne würde ich wissen, welches seiner Gedichte diese Menschen hier vortragen.< Da faßte ihn der Engel liebevoll am Arm, und beide setzten sich auf eine der Bänke, die es auf dem großen Platz gab. >Die Gedichte deines Sohnes waren sehr beliebt im alten Rom<, sagte der Engel. >Alle mochten sie und haben sich an ihnen erfreut. Aber als die Herrschaft von Tiberius vorbei war, gerieten sie in Vergessenheit. Diese Worte sind von deinem Sohn, der dem Heer beitrat.< Der Alte sah den Engel verwundert an.
>Dein Sohn diente an einem entfernten Ort und w urde Befehlshaber. Er war auch ein gerechter und guter Mensch. Eines Tages erkrankte sein Knecht und lag im Sterben. Dein Sohn hatte von einem Rabbi gehört, der Kranke heilte, und so begab er sich tagelang auf die Suche nach diesem Mann. Während der Reise erfuhr er, daß der Mann, den er suchte, Gottes Sohn war. Er begegnete anderen Menschen, die durch ihn geheilt wurden, er lernte ihre Lehre kennen, und obwohl er ein römischer Legionär war, bekannte er sich zu ihrem Glauben. Bis er eines Tages dem Rabbi persönlich begegnete. Er erzählte ihm von seinem kranken Diener. Und der Rabbi erbot sich, mit in sein Haus zu kommen. Aber der Legionär war ein gläubiger Mann, und als er dem Rabbi in die Augen sah, wußte er, daß er wahrhaftig den Sohn Gottes vor sich hatte, während sich die Leute um sie
ie her erhoben. Dies sind d Worte, die dein Sohn in jenem Moment zum Rabbi sagte und die nie mehr vergessen wurden: Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, und mein Knecht wird gesund.< Ganz egal, was man ist, jeder Mensch steht jederzeit im Mittelpunkt der Weltgeschichte. Doch meistens weiß er es nicht«, schloß der Alchimist, indem er sein Pferd antrieb.
Der Jüngling lächelte. Er hatte nie für möglich gehalten, daß das Leben eines Hirten so wichtig sein könnte.
»Leb wohl!« sagte der Alchimist.
»Leb wohl!« antwortete der Jüngling.
35
Der Jüngling zog zweieinhalb Stunden durch die Wüste und versuchte zu hören, was ihm sein Herz sagte. Denn es würde ihm den genauen Ort angeben, wo der Schatz verborgen lag.
»Wo dein Schatz liegt, dort ist auch dein Herz«, hatte der Alchimist gesagt. Aber sein Herz sprach von anderen Dingen. Es erzählte mit Stolz von einem Hirten, der seine Schafe verlassen hatte, um einem wiederkehrenden Traum zu folgen. Es erzählte von dem persönlichen Lebensplan und von all den Männern, die sich ebenfalls aufgemacht hatten, auf der Suche nach fernen Ländern und schönen Frauen, und die es mit den Männern ihrer Zeit aufgenommen hatten, mit deren Anschauungen und Vorurteilen. Und während des ganzen Weges erzählte sein Herz von Reisen, Entdeckungen, Büchern und großen Veränderungen.
Erst in dem Augenblick, als er eine Düne erklimmen wollte, und nicht einen Augenblick früher, flüsterte ihm sein Herz zu: »Achte auf den Ort, an dem du weinen wirst. Denn an jenem Ort werde auch ich sein, und dort liegt dein Schatz begraben.« Der Jüngling stieg langsam die Düne hinauf. Der Sternenhimmel zeigte wieder einen Vollmond; sie waren also einen Monat lang durch die Wüste gezogen. Das Mondlicht ließ die Düne in einem Schattenspiel wie ein wogendes Meer aussehen, und der Jüngling dachte an jenes Mal zurück, als er die Zügel seines Pferdes lockergelassen und dem Alchimisten das Zeichen gegeben hatte, worauf dieser
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