Der Allesforscher: Roman (German Edition)
zwei, drei Tage eine Mail. Keinen Roman, das nicht, auch kein Gedicht, eher etwas Sachliches, sachlich, aber freundlich. Wäre sie nicht ihrerseits so stark eingespannt gewesen, sie hätte mich augenblicklich besucht.
Ich konnte mich deutlich an den Zustand von Zufriedenheit erinnern, den das Verlobtsein mit ihr hervorrief, wenngleich ich mir im Moment schwergetan hätte, ihr Gesicht zu beschreiben. Ihr Gesicht lag in einem Nebel, der ganz Köln verdeckte.
Mir war nicht klar, wie sehr im Zuge meiner Kopfverletzung nicht doch mein Gedächtnis in Mitleidenschaft gezogen worden war. Absolut perfekt schien es nicht zu funktionieren. Ich hatte Aussetzer und Lücken. Doch manche Lücke war mir durchaus willkommen.
Freilich wußte ich, daß meine Verlobte Lydia hieß, zudem war mir der leidenschaftliche Sex mit ihr präsent. Allerdings auch, wie sehr dieser zuletzt eine eheähnliche Eintrübung erfahren hatte. Nun, wir wollten ja ohnehin heiraten. Auch waren da noch Lydias Eltern, Walter und Grita, Wallace & Gromit, wie Lydias kleiner Bruder heimlich gerne sagte, reiche Leute, die Eltern, ein bißchen steif, aber … Faktum war, daß ich mir im Moment niemanden weniger an meinem Tisch wünschte als diese Lydia. Diese Lydia.
Dr. Senft hingegen …
Ich fragte sie offen heraus, ob sie verheiratet sei.
»Wieso, haben Sie Interesse?« fragte sie und verzog keine Miene. »Oder wollen Sie nur ein bißchen unverschämt sein?«
»Also, das halte ich eher für das Normalste auf der Welt.«
»Was? Unverschämt sein oder Instant-Heiratsanträge?«
»Instant? Na, wir kennen uns doch schon eine Weile, nicht wahr? Außerdem wissen Sie über mein Gehirn besser Bescheid als irgend jemand anderes.«
»Sie sind ganz schön zuversichtlich«, stellte Dr. Senft fest, schob das Heiratsthema aber zur Seite und ging auf das Kopfthema ein. Sie erklärte mir, daß das Gehirn weniger die Welt abbilde als unsere Vorstellung von der Welt. Es erspare uns gewisse Sachverhalte, zum Beispiel den, für die Dauer des Blinzelns den Kontakt zur sichtbaren Welt zu verlieren. Immer wieder aufs neue, mitten am Tag in eine kurzzeitige Nacht zu geraten. Das Gehirn unterbinde es, diesen enervierenden und durchaus bedrohlichen Zustand wahrzunehmen.
»Das Gehirn lügt uns also an«, stellte ich fest.
»Na, das ist die Frage, ob man das Unterdrücken einer schlechten Nachricht als Lüge interpretieren sollte. – Wenn überhaupt, ist es doch eher eine Notlüge, damit der arme Mensch eben nicht verrückt wird. So, wie es auch besser ist, das schwarze Loch nicht zu sehen, welches da mitten in unserem Auge klafft und das wir Pupille nennen. Ich meine, das Loch ist ja da, notwendigerweise, weil schließlich die sichtbare Welt hineinströmt und unserem Hirn sagt, was draußen so los ist.«
»Viel Schlimmes.«
»Viel Anstrengendes. Lebensmittelpreise, perverse Leute im Fernsehen, bunte Geschmacklosigkeiten … da würde es wirklich noch fehlen, sich unentwegt der Dunkelheit beim Blinzeln bewußt zu sein. Wie bei einem langen Satz, der voll von Beistrichen ist.«
Ich wendete ein, Beistriche seien eigentlich ganz praktisch. »Die verleihen einem Satz eine Struktur. Eine hilfreiche dazu.«
»Nicht, wenn man den Beistrich mitliest, ich mein’s wortwörtlich, also ständig ›Beistrich‹ sagt und ›Punkt‹ und ›Anführungszeichen oben‹ und so weiter. Das würde einen dummen Satz noch dümmer machen und einen gescheiten verunstalten. Oder?«
»Was genau wollen Sie mir sagen?« fragte ich.
»Wir gehen immer davon aus, eine Schädigung spezifischer Hirnareale führe dazu, eine Information nicht zu erhalten, eine Nachricht, einen Reiz nicht zu empfangen. Was aber, wenn es umgekehrt ist? Wenn die Unterbrechung des Strangs, die Abschottung des Areals also dazu führt, daß das Gehirn aufhört, weiter seinen hilfreichen Schwindel mit uns zu treiben. Wir also plötzlich etwas erkennen, etwas bewußt wahrnehmen, was immer schon vorhanden war. Einen Beistrich eben, oder das Schwarz im Moment des Zwinkerns, oder vielleicht, ganz allein auf der Welt zu sein und sich den Rest bloß einzubilden.«
»Bilde ich mir Sie nur ein, Frau Doktor, oder bin ich vielmehr ein Teil Ihrer Einbildung? Weil, das wäre dann ja schon ein Unterschied.«
»Wir können nicht ausschließen, daß jemand Drittes sich uns ausdenkt, oder?«
»Danke«, sagte ich.
»Wieso danken Sie?«
»Ich danke dem, der sich ausgedacht hat, uns beide zusammenzubringen.«
»Sie sind ein übler
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