Die Gassen von Marseille
Eine schwarze Fliege spaziert über die Zimmerdecke. Ruckartig, stoßweise. Hin und wieder fliegt sie mit einem gebieterischen »Bssst!« auf, um gleich darauf wieder nahe bei dem Punkt, von dem sie gestartet ist, zu landen.
Trotz des Stöhnens der Wolfsmänner, die sich auf dem jungen Mädchen bewegen, trotz ihrer Anweisungen – »Dreh dich um, mach die Beine breit, lutsch meinen Schwanz, beweg deinen Arsch …« –, trotz der Schläge, wenn sie nicht schnell genug reagiert, sich dreht, breitmacht, lutscht, bewegt, hört sie deutlich das Summen der Fliege. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf die abrupten, kurvigen Flüge des Insekts gerichtet.
»Bssst!«
Sie fragt sich, was das Insekt mit seinen Facettenaugen von der Welt der Menschen wahrnimmt. Die Vergewaltigung eines jungen Mädchens, tausendfach weitergegeben an ein winziges Gehirn. Diverse Redensarten kommen ihr in den Sinn … Fliegen … Umkippen wie die Fliegen … Die Fliege machen … Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen … Bizarr in dieser engen, abgeschlossenen, toten Welt, die sie umgibt.
»Bssst!«
Zuvor, als sie noch ihren Liebsten hörte, seine verzweifelten Schreie, seinen gequälten Wahn, da hat sie mit ihm geschrien … Das hat ihren Peiniger erregt, den Schlangenmann … Den Mann mit den kalten, verklebten Augen. Aber jetzt, nachdem seine Schreie verstummt sind, jetzt, wo er tot ist, hört sie nur noch den drängenden, beharrlichen Flug der schwarzen Fliege.
Er ist das Einzige, worauf sie noch hört …
Alles andere …
»Bssst!«
Diese Tiere leben nicht lange … Sie fühlt sich ihr so nah, freundschaftlich, mütterlich …
»Genieß das Leben, nistonne! Es ist kurz! Flieg!«, schreit sie in ihrem Kopf. Auch sie wird sterben. Das hat ihr der Schlangenmann gesagt, wollüstig.
»Du machst es nicht mehr lange … Du bist nicht gut genug …«
Danach hat er ihr ganz genau ausgemalt, was mit ihr passieren wird. Das hat ihm gefallen. Sein Reptilienblick hat sich in die Augen des jungen Mädchens gebohrt, weil er hoffte, dort Erschrecken, Angst, Panik zu finden … Aber vergeblich … In ihrem Kopf dröhnt nur das summende Echo der Flügel dieser schwarzen Fliege, die immer wieder ein Stückchen fliegt … und wieder … und wieder …
»Bssst!«
Das erste Mal ist es vor Malmousque passiert.
Bei Sonnenuntergang … Tack-tack-tack-tack. Der Motor läuft rund … Beruhigend. An der Küste zeichnen sich die Villen ab, sanfte Farben, bunt, üppige Formen. Ich fahre mit meinen Freunden Jean-Michel und Juanita auf dem Engatseur hinaus. Dieser Pointu hat früher mal mir gehört, aber nach ein paar finanziellen Einbußen habe ich ihn Jean-Michel verkauft. Im Moment stehe ich nicht mehr im Wind, sondern lasse mich treiben … Ich liebe dieses kleine typische Marseiller Boot noch genauso sehr wie früher. Es ist aus Holz, blau und weiß, die Farben meiner Stadt. Und die Farben Griechenlands, wo mein Vater geboren ist.
Weil es so schön ist, mit dem stolzen, männlichen capian am Bug, mit dem es das Meer durchpflügt …
Ich bin froh, dass mein Freund es gekauft hat. Als meine Ersparnisse aufgebraucht waren, blieb mir nichts anderes übrig, als alles zu verscherbeln, auch die Dinge, an denen ich am meisten hing, und das war vor allem dieses schöne kleine Boot.
Mein Augenstern, verflucht!
An dem Tag, als Jean-Michel zum ersten Mal als Kapitän an Bord ging, hat er zu mir gesagt: »Du kannst so oft damit rausfahren, wie du willst … Ich kaufe es dir ab, einverstanden, aber nur vorübergehend, bis du wieder flüssig bist!«
Ich wollte dieses Angebot nicht ausnutzen. Aber hin und wieder fahren wir zum Schwimmen raus aufs Meer. Nur wir beide oder auch zu mehreren … Heute Abend gibt es einen Schluck Rosé, um seine Abreise nach Martinique zu feiern. Er ist Arbeitsinspektor und wurde in die Heimat seiner kreolischen Verlobten Juanita versetzt.
Vor Malmousque, bei dem Felsen, der zwischen der Küste und der kleinen Degaby-Insel aus dem Meer schaut, wirft Jean-Michel den Anker aus. Dann springen wir alle drei ins kühle Nass. Meine beiden Freunde umkreisen einander und führen ununterbrochen den berühmten Einakter »Die verliebten Delfine« auf.
Ich lasse den beiden calignaïres, wie man solche Turteltäubchen hier bei uns nennt, ein bisschen Freiraum … Sie verziehen sich hinter das Boot, und ich verziehe mich allein auf die Westseite des Felsens. Keine schlechte Idee, hier scheint sogar noch ein Rest Sonne …
Von den
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