Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman
rumzufragen, und irgendwann kannst du dann zumindest sagen, dass du Ziegler nicht so einfach hast davonkommen lassen.«
»Ja, hast Recht. Ich muss sowieso noch Zeit totschlagen, bevor die Sonntagsnachrichten auf Fox anfangen.«
Was ich nicht vergessen will:
Historiker halten das Todeslager Chełmno in Polen für eine der kleineren Vernichtungsstätten, denn dort starben nur 150 000 Juden. Ich stattete dem Lager 1946 einen Besuch ab, und zu der Zeit war schon nicht mehr viel davon übrig. Als die Nazis das Lager schlossen, brannten sie das Herrenhaus nieder, von dem aus sie ihre Opfer auf den Weg in den Tod geschickt hatten, und sprengten auch die Krematoriumsöfen, in denen die Leichen verbrannt worden waren. Vielleicht schämten sie sich ja.
Es wäre eine bessere Geschichte, könnte ich sagen, dass der beißende Geruch verbrannten menschlichen Fleisches noch in der Luft über dem Chełmno-Gelände hing. Aber es waren zwei Jahre vergangen, seit die Nazis das Lager geschlossen hatten, und daher war nichts Besonderes zu sehen oder gar zu riechen. Da war nichts als ein schlammiges Feld mit ein paar Rasenflächen.
Es gibt ein Dorf namens Chelm, das in der jiddischen Folklore für die idiotischen Missgeschicke seiner Bevölkerung aus vertrottelten Juden berühmt ist. Es wäre eine bessere Geschichte, wenn es sich bei dem Lager Chełmno um denselben Ort gehandelt hätte, aber so ist es nicht. Ich habe das nachgeprüft. Chełmno liegt in Polens Mitte, in der Nähe von Lodz, und Chelm befindet sich östlicher. Die Juden von Chełmno konnten aber auch nicht sonderlich smart gewesen sein. Sie ließen sich nämlich von der SS auf Lastwagen laden, in denen man sie mit dem Kohlenmonoxid der Auspuffgase erstickte.
Das war Heinrich Zieglers Job von Ende 1941 bis Mitte 1942, als er wegen seines Einsatzeifers und seiner Effizienz befördert wurde. Es wäre eine bessere Geschichte, hätte ich ihn inmitten der Ruinen des Lagers gefunden, von Reue und Selbstverachtung zerfressen und in der Erwartung, dass jemand wie ich käme, um mit ihm abzurechnen. Aber ich fand in Chełmno nichts vor. Um die Wahrheit zu sagen: Es war die reine Zeitverschwendung.
Ich stand einfach nur eine Weile da, auf dem leeren Feld in dieser Senkgrube Polens. Ich rauchte eine Zigarette. Ich fluchte ein paar Mal. Dann stieg ich auf mein Motorrad und fuhr in die Stadt zurück, um mich irgendwo volllaufen zu lassen.
Ich versuchte, Heinrich Ziegler zu töten, und verbrachte stattdessen fünf Wochen im Koma. Später, als ich erfuhr, was er so vielen unschuldigen Juden angetan hatte, empfand ich die Last meines Versagens als beinahe unerträglich. Es gab etwas geradezurücken.
Noch nach Monaten schmerzvoller Genesung, noch nach dem Waffenstillstand wollten meine Hände Ziegler an die Kehle. Er sollte für die Narbe auf meiner Schulter und die Streifen auf meinem Rücken bezahlen. Und er musste für Chełmno zahlen. Also hetzte ich durch ganz Europa auf der Jagd nach dem Dreckskerl, eine Pistole dicht am Körper und ein gezacktes Jagdmesser im Stiefel.
Die Deutschen sind ein sehr ordnungsliebendes Volk, und die Nazis befleißigten sich penibler Dokumentation. In Berlin fand ich die Aufstellung sämtlicher Posten, die Ziegler innegehabt hatte: Berichte über seine grausigen Taten in Polen, Daten und Zahlen, akribisch aufgezeichnet in korrekt angelegten Spalten; Materialanforderungen aus dem Gefängnislager, in dem ich ihn kennengelernt hatte; Befehle, die ihn zurück nach Berlin kommandierten; Durchschläge des Briefs, den sie an seine Mutter geschickt hatten, nachdem er von sowjetischem Maschinengewehrfeuer zerfetzt worden war.
Die Nachricht von seinem Tod war für mich nicht tröstlich. Ziegler hatte mich in die Lage völliger Hilflosigkeit und Ohnmacht versetzt. Und Hilflosigkeit war für mich etwas Unsauberes. Er hatte etwas, das mir gehörte, und ich musste es mir von ihm zurückholen. Aber Kräfte, die sich meiner Kontrolle entzogen, hatten mich meiner Chance beraubt. Und Kontrolle war etwas, das ich brauchte, aber es fiel mir schwer, angesichts eines willkürlichen Gemetzels von solchem Ausmaß, das Gefühl zuentwickeln, Herr über mein eigenes Schicksal zu sein. Die Information, dass Ziegler tot war, machte alles nur noch schlimmer.
Eine Weile wollte ich es nicht glauben und blieb weiter auf der Jagd. Ich begab mich an die Orte, wo Ziegler aufgetaucht war, und erkundigte mich bei den Leuten nach ihm. Manchmal blieb ich hartnäckig. Aber die Geschichten
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