Der Alte, dem Kugeln nichts anhaben konnten - Roman
interessiert dich das?«
»Du bist mein Großvater. Du weißt, ich liebe dich.«
»Oi.«
Das sagte er immer zu mir, weil er es, glaube ich, nie zu seinem Vater gesagt hatte. Jedes Mal, wenn er sich nach einem Besuch verabschiedete, küsste er mich aufs Gesicht, obwohl er doch in so gut wie jeder Hinsicht ein erwachsener Mann ist. Und mein Unbehagen wurde keinesfalls durch die Tatsache gemindert, dass ich bei jedem dieser Küsse ahnte: Er macht das, weil er glaubt, ich könnte seinen nächsten Besuch vielleicht nicht mehr erleben. Für meinen Teil hielt ich dasselbe bei ihm für möglich: Junge Männer sind so zerbrechlich wie wir alle, nur nicht erfahren genug, es zu wissen.
»Ich wüsste nicht, was daran falsch sein sollte, dass ich meine Großeltern liebe.«
Ich seufzte und senkte die Stimme. »Wallace hat mir gesagt, dass der Nazi-Wächter, der mich zusammengeschlagen hat, als ich in Gefangenschaft war, lebend aus Deutschland geflohen ist. Im Kofferraum seines Wagens hat er jede Menge Goldbarren weggeschafft. Wallace hat sich bestechen und den Mann entkommen lassen.
»Klar, dass dir das im Kopf herumspukt.«
»Sag bitte deiner Großmutter nichts davon. Die würde sich nur aufregen.«
»Ich werde schweigen«, versicherte er mir. Meinetwegen hätte er auf den gönnerhaften Tonfall verzichten dürfen. »Warum hat dir Wallace ausgerechnet jetzt, nach all der Zeit, von diesem Nazi erzählt?«
»Er wollte wohl Absolution oder so was. Und ich denke, er hat von mir erwartet, dass ich diesen Kerl aufspüre. Um der Gerechtigkeit willen.«
»Warum sollte er annehmen, dass du so was tust?«
»Wahrscheinlich, weil ich dreißig Jahre lang Detective im Morddezernat war. Das wusstest du doch, oder?«
Tequila wartete ein paar Takte zu lange, bevor er sagte: »Ja, natürlich, Pop.«
Die meisten, die mich von damals kennen, Leute wie Wallace, hielten mich immer noch für einen Polizisten. Aber ich war in Ruhestand gegangen, noch bevor mein Enkel geboren wurde. Ich nahm an, dass er in mir nichts als einen alten Mann sah.
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte er.
Eine Sekunde lang dachte ich darüber nach. »Ich werde mir eine Weile die Nachrichten auf Fox ansehen, und später, wenn ich auf dem Klo sitze, nehme ich mir ein Kreuzworträtsel vor.«
»Okay, aber was wirst du wegen dem Nazi unternehmen?«
»Nichts werde ich unternehmen. Wenn man die Chance hat, nichts zu tun, sollte man sie immer ergreifen.«
»Wirst du es nicht bereuen, ihn nicht zur Verantwortung gezogen zu haben? Er hat dir deine Würde genommen.«
Ich hoffte, dass mein Hüsteln spöttisch klang. Reue war etwas für schwachbrüstige Waschlappen. Die Welt war voller ausgelaugter Männer, die mit glasigem Blick auf Parkbänken saßen und ins Leere starrten oder in den Aufenthaltsräumen von Altenheimen in Polstersesseln versanken. Und allesamt grübelten sie über unabänderliche Fehler in ihrer Vergangenheit. Vertane Chancen. Vermasselte Liebeleien mit launischen Frauen und schiefgelaufene Geschäfte mit betrügerischen Partnern.
Ich war stolz darauf, nicht zu diesen traurigen Gestalten zu gehören. Missmutig war ich eher zum Spaß, nicht notgedrungen. Ich hatte die großartigste Frau geheiratet, die mir je begegnet war, und ich hatte eine glänzende Karriere bei der Polizei hingelegt. Mit der Pension eines Detective war ich aus dem Dienst ausgeschieden. Optimal wäre es gewesen, hätte ich meinen Sohn nicht sterben sehen müssen, aber alt zu werden bedeutete, Dinge zu überdauern, die als immerwährend gedacht waren.
Die Entdeckung, dass Heinrich Ziegler möglicherweise überlebt hatte, entfachte bei mir keinen Rachedurst, keine Leidenschaft. Der Krieg hatte vor langer Zeit stattgefunden, und Leidenschaft macht so viel Mühe.
»Was auch immer er mir genommen hat, inzwischen vermisse ich es nicht mehr«, sagte ich. »Wir müssen alle lernen, mit dem Verlust von Würde zu leben, und Rache kann Männern wie mir und Ziegler nicht mehr viel nehmen. Jede andere Art, auf die wir das Zeitliche segnen können, ist mindestens genauso hässlich und kommt mindestens genauso bald.«
Ich hielt einen Augenblick inne. Ich hatte wieder diesen trockenen Mund. Ich drückte die Zigarette aus und trank einen großen Schluck Saft. Leicht ist es nie, mit der Realität einer geriatrischen Intensivstation und dem Ort, der darauf folgt, konfrontiert zu werden. Leicht war es jedenfalls nicht, mir zu vergegenwärtigen, was ich wohl mit den sich einpinkelnden, mit
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