Der Amerikaner - The American
scheint Ihnen zu bekommen.« Der Himmel war blassgrau, und der beißende Wind schien vorzeitigen Schneefall anzukündigen. Kealey schaute Harper an und hatte den Eindruck, dass seine Worte aufrichtig gemeint waren. Manchmal war das schwer zu beurteilen, denn Harpers Miene gab nie etwas preis. Mit dem ordentlich rechts gescheitelten Haar, der konservativen, aber kostspieligen Kleidung und dem unwandelbaren, stets ernsten Gesichtsausdruck war er Kealey immer eher wie ein in die Jahre gekommener Minister oder Banker erschienen. Wie ein hochrangiger Geheimdienstoffizier wirkte er nicht.
»Ich kann nicht sagen, dass ich unglücklich wäre.«
Harper nahm sich einen Augenblick Zeit, um diese Worte zu verdauen. Bei Kealey tat er das immer. »Trotzdem müssen Sie jede Menge freie Zeit haben.«
Kealey zögerte mit seiner Antwort. »Man versucht, sich zu beschäftigen«, sagte er dann. »Ich halte Vorlesungen an der Universität und habe eine Beziehung. Kein übles Leben, John.« Er richtete seine grauen Augen auf Harper. »Mein jetziges Leben ist lebenswert … und sicher.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Harper fand nicht die richtigen Worte. Er wusste von der vierundzwanzigjährigen Studentin und dem eher dürftigen Job an der Universität. Kealey pries das Leben in der Provinz, täuschte Interesse
an einem ganz gewöhnlichen Alltagsleben vor. Bestimmt hoffte er, die Zeit würde die Erinnerung daran auslöschen, was er gesehen und vielleicht auch getan hatte. Hätte man ihn gefragt, dann hätte Harper geantwortet, dass Kealey etwas Besseres verdient hatte. Wahrscheinlich wusste er, dass man ihn weiterhin im Auge behielt. Kealey wollte sich überzeugen lassen, denn sonst wäre er gar nicht erst nach Washington gekommen.
»Vermutlich haben Sie es x-mal im Fernsehen gesehen. Diese Geschichte ist absolut unglaublich. Ein Anschlag auf drei Autos, am helllichten Tage, und wir haben nichts in der Hand. Sechs tote Zivilisten, darunter eine schwangere Frau, siebzehn Verletzte. Die Medien spielen verrückt. Außerdem sitzt uns der Präsident im Nacken, er scheint dem Senator ziemlich nahe gestanden zu haben.« Harper begann zu bibbern, als eine Windbö durch das herbstlich gefärbte Laub über ihren Köpfen pfiff. »Dieser Typ hat alle zu Levys Schutz abgestellten Secret-Service-Agenten aus dem Verkehr gezogen, Ryan. Und wir reden hier nicht von Leuten, die hinter ihrem Schreibtisch der Pensionierung entgegendämmerten, sondern von echten Profis, die auch schon für die Sicherheit des Präsidenten verantwortlich waren.«
»In den Nachrichten hieß es, eine Frau habe den Anschlag überlebt.«
»Stimmt. Sie heißt Megan Lawrence und ist seit sieben Jahren dabei. Traurige Geschichte. Sie hat eine siebenjährige Tochter. Die Ärzte gehen nicht davon aus, dass sie durchkommen wird.« Harper warf seinen leeren Starbucks-Becher in Richtung eines überquellenden Müllcontainers, doch er fiel zu Boden und wurde vom Wind hinweggetragen. Eine farbenfroh gekleidete Joggerin mit blondem Pferdeschwanz warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
»Levy war auf dem Rückweg zu seinem Haus in Alexandria.
Die Route war von dem Personenschutzkommando überprüft und genehmigt worden, aber sie war nur einer von fünf möglichen Wegen. Die endgültige Route wurde keine halbe Stunde vor dem Zeitpunkt ausgewählt, als Levy das Russell Building verließ. Wir haben eine Liste mit den Namen der Leute, die über diese Information verfügten, und sie ist kurz. Unsere Mitarbeiter beschäftigen sich mit jedem Einzelnen von ihnen. Wenn ich es richtig verstanden habe, waren sie bereits bei McLaughlin, um eine richterliche Genehmigung für die Telefonüberwachung zu bekommen. Falls man sich dort kooperativ zeigt, sollten wir in ein oder zwei Tagen mehr wissen.«
»Warum hat ein Senator überhaupt Anspruch auf Personenschutz seitens des Secret Service? Ich dachte, dafür wäre die Capitol Hill Police zuständig.«
Harper ließ sich mit seiner Antwort etwas Zeit. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte er schließlich. »Wir haben ein Video, sogar mehrere. Ich denke, Sie kennen eventuell die Person, die für diese Tat verantwortlich ist.«
Nach diesen Worten kam es Kealey so vor, als wäre plötzlich die Zeit stehen geblieben. Er wurde von kalter Angst gepackt, fühlte sich desorientiert und beruhigte sich erst wieder, als er Harpers Hand auf seiner Schulter spürte.
»Sehen Sie sich die Bänder an, Ryan. Danach sagen Sie mir, was Sie
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