Der Amerikaner - The American
Patientin wird Ihrem Gesichtsausdruck zu entnehmen versuchen, wie sie aussieht und wie es um sie bestellt ist. Sie kennt die Diagnose, muss aber trotzdem nicht jedes Mal daran erinnert werden, wenn jemand ihr Zimmer betritt.«
Kharmai nickte kurz und ließ den Arzt stehen.
Doch als sie mit dem Agenten im Schlepptau das Krankenzimmer betrat, schaffte sie es nicht, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Die Patientin mit den tiefen, dunkelrot verfärbten Verbrennungen war kaum noch als menschliches Wesen zu erkennen. In der Luft hing ein an Knoblauch erinnernder Geruch, der - wie sie wusste - darauf zurückging, dass die Nekrose die subkutanen Hautschichten zerfraß. Obwohl die schwersten Verbrennungen mit sterilen, in einem salinischen Mittel getränkten Verbänden bedeckt waren, wurde Kharmai bewusst,
dass sie bisher noch nie so schlimme Verletzungen gesehen hatte.
»Mrs Lawrence? Ich heiße Naomi Kharmai und arbeite für die CIA. Wir müssen über den Mord an Senator Levy reden.«
»Ich habe bereits meinen Vorgesetzten und dem FBI Bericht erstattet«, antwortete Megan Lawrence deprimiert. »Im zweiten Fall war auch jemand von der Capitol Hill Police dabei. Ist es nicht üblich, mit ihnen Informationen auszutauschen?«
Obwohl die Osteomyelitis am Kiefer zu einer schleppenden Aussprache führte, hatte sie immer noch eine melodiöse Stimme, der zuzuhören vor ein paar Tagen ein Vergnügen gewesen sein musste. »Tut mir Leid, Agent Lawrence, aber Sie wissen ja, wie das läuft. Wir benötigen eine Aussage aus erster Hand, und au ßerdem habe ich ein paar Fotos dabei, die ich Ihnen gern zeigen würde.« Kharmai hoffte, dass die Anrede »Agent« ein bisschen professionelle Höflichkeit befördern würde, doch Lawrence empfand sie nur als herablassend.
»Vielleicht können wir es später versuchen«, antwortete sie. »Aber jetzt fühle ich mich nicht in der Lage …«
»Sie wissen, dass ich später keine Zeit mehr haben werde. Also, wenn’s Ihnen nichts ausmacht …«
»Zeit?«, unterbrach Lawrence ungläubig und so energisch, dass der Agent an der Tür sich etwas aufrichtete. »Sie wollen mit mir über Zeit reden?« Mittlerweile schrie Lawrence, und auf einmal klang ihre Stimme glasklar. » Sie haben alle Zeit der Welt! Ich werde dieses Zimmer nicht mehr lebend verlassen, meine Tochter wird ihre Mutter verlieren! Und außer mir hat sie niemanden !« Ihr Oberkörper fiel auf das Laken zurück, und ihr Zorn verschwand so schnell, wie er aufgebrandet war. Ihre Worte brachten ihr erneut die ganze Hoffnungslosigkeit ihrer Lage zu
Bewusstsein, und das war schlimmer als der ärgste körperliche Schmerz. Tränen rannen über ihr so furchtbar in Mitleidenschaft gezogenes Gesicht.
Mit drei schnellen Schritten war der massige Agent bei Kharmai, packte sie unsanft am Arm und zog sie aus dem Krankenzimmer. Während er die wütend protestierende Kharmai den Flur hinabstieß, folgten ihnen Lawrence’ Schluchzer. Der Agent ließ ihren Arm erst vor dem Eingang des Krankenhauses wieder los.
Es hatte leicht zu schneien begonnen, ein früher Wintereinbruch im Oktober. Für einen langen Augenblick stand Kharmai reglos da, dann ging sie wütend zu ihrem Auto. Hinter ihr wurde die Eingangstür noch einmal aufgerissen, und jemand rief etwas in ihre Richtung. Als sie sich umdrehte, erkannte sie den jungen Assistenzarzt, der auf sie zukam.
Sie wartete ungeduldig.
»Ich dachte, Sie sollten wissen, dass ihr keine Woche mehr bleibt«, sagte der Arzt. »Ihr Mann ist vor drei Jahren gestorben, und sie wird ihre Tochter nicht wiedersehen, weil sie es ihr ersparen will, sie so in Erinnerung zu behalten.«
Der Arzt studierte Kharmais Miene und begriff, dass seine Worte sie ungerührt ließen. Er drehte sich um und ging in das Krankenhaus zurück, um seine Schicht zu beenden.
4
Langley, Virginia
Ryan Kealey stand in einem verdunkelten Raum im CIA-Hauptquartier in Langley vor einer Konsole mit Monitoren und Audiogeräten. Auf dem laminierten Besucherausweis wurde er mit einer Nummer identifiziert, aber er war zusätzlich mit einem drei Jahre alten Foto versehen. In dem unpersönlich eingerichteten Raum wimmelte es von jungen Analysten, die lange Zahlenreihen und andere Daten betrachteten und sich gelegentlich über ihre Pappbecher mit kaltem Kaffee hinweg etwas zuflüsterten. Neben Kealey stand Roger Davidson, der Chefanalyst.
»Die Kopie dieses Videos haben wir im Juni 2003 von den Saudis erhalten - Gott allein weiß, wie sie das
Weitere Kostenlose Bücher