Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Millionen und Abermillionen Malen gestellt wurde und niemals eine Antwort fand.
Die Verhaftung ist eine jähe, mit voller Wucht uns treffende Versetzung, Verlegung, Vertreibung aus einem Zustand in einen anderen.
Da jagten wir glücklich oder trabten wir unglücklich durch die lange winkelige Straße unseres Lebens, an Zäunen, Zäunen, Zäunen entlang, vorbei an moderigen Holzplanken, an Lehmmauern und Eisengittern, vorbei an Umfriedungen aus Ziegel und Beton. Wir verloren keinen Gedanken daran, was wohl dahinter lag. Weder versuchten wir hinüberzublicken, noch uns hinüberzudenken – dahinter aber begann das Land GULAG, gleich nebenan, keine zwei Meter von uns entfernt. Auch hatten wir in diesen Zäunen die Unmenge von genau eingepaßten, gut getarnten Türen und Pförtchen nicht bemerkt. Alle, alle diese Pforten standen für uns bereit – und es öffnete sich rasch die schicksalhafte eine, und vier weiße Männerhände, an Arbeit nicht, dafür aber ans Zuschnappen gewöhnt, packen uns an Beinen, Armen, Haaren, am Ohr oder am Kragen, zerren uns wie ein Bündel hinein, und die Pforte hinter uns, die Tür zu unserem vergangenen Leben, die schlagen sie für immer zu.
Schluß. Sie sind – verhaftet!
Und keine andere Antwort finden Sie darauf als ein verängstigtes Blöken: «W-e-e-r? I-i-ch?? Warum denn??»
Ver-haf-tet-wer-den, das ist: ein Aufblitzen und ein Schlag, durch die das Gegenwärtige sofort in die Vergangenheit versetzt und das Unmögliche zur rechtmäßigen Gegenwart wird. Das ist alles. Mehr zu begreifen gelingt Ihnen weder in der ersten Stunde noch nach dem ersten Tag.
Noch blinkt Ihnen in Ihrer Verzweiflung wie aus der Zirkuskuppel ein künstlicher Mond zu: «Ein Irrtum! Das wird sich schon aufklären!»
Alles andere aber, was sich heute zur traditionellen und sogar literarischen Vorstellung über die Verhaftung zusammengefügt hat, entsteht und sammelt sich nicht mehr in Ihrem bestürzten Gedächtnis, sondern im Gedächtnis Ihrer Familie und der Wohnungsnachbarn.
Das ist: ein schrilles nächtliches Läuten oder ein grobes Hämmern an der Tür. Das ist: der ungenierte stramme Einbruch der an der Schwelle nicht abgeputzten Stiefel des Einsatzkommandos. Das ist: der hinter ihrem Rücken sich versteckende eingeschüchterte Zeuge als Beistand. (Wozu der Beistand? – Das zu überlegen, wagen die Opfer nicht, und die Verhafter haben es vergessen, aber es ist halt Vorschrift; so muß er denn die Nacht über dabeisitzen und gegen Morgen das Protokoll unterschreiben. Auch für den aus dem Schlaf gerissenen Zeugen ist es eine Qual: Nacht für Nacht dabeisein und helfen zu müssen, wenn man seine Nachbarn und Bekannten verhaftet.)
Die traditionelle Verhaftung – das heißt auch noch: mit zitternden Händen zusammensuchen, was der Verhaftete dort brauchen könnte: Wäsche zum Wechseln, ein Stück Seife und was an Essen da ist, und niemand weiß, was notwendig und was erlaubt ist und welche Kleidung am besten wäre, die Uniformierten aber drängen: «Wozu das alles? Dort gibt’s Essen genug. Dort ist’s warm.» (Alles Lüge. Und das Drängen dient nur zur Einschüchterung.)
Die traditionelle Verhaftung hat noch eine stundenlange Fortsetzung, später, wenn der arme Sünder längst abgeführt ist und die brutale, fremde, erdrückende Gewalt sich der Wohnung bemächtigt. Das sieht so aus: Schlösser aufbrechen, Polster aufschlitzen, alles von den Wänden runter, alles aus den Schränken raus, ein Herumwühlen, Ausschütten, Aufschneiden, ein Reißen und Zerren – und Berge von Hausrat auf dem Boden, und Splitter unter den Stiefeln. Und nichts ist ihnen heilig während der Haussuchung! Während der Verhaftung des Lokführers Inoschin stand der kleine Sarg mit seinem eben verstorbenen Kind im Zimmer. Die Rechtshüter kippten das Kind aus dem Sarg heraus, sie suchten auch dort. Sie zerren Kranke aus ihren Betten und reißen Verbände von Wunden.
Für die aber, die nach der Verhaftung zurückbleiben, beginnen ab nun lange Monate eines zerrütteten, verwüsteten Lebens. Die Versuche, mit Paketen durchzukommen. Und überall nur bellende Antworten: «Den gibt es nicht!», «Nicht in den Listen!» Zuvor aber muß man an den Schalter gelangen, aus dem das Gebell schallt, und das bedeutete in den schlimmen Leningrader Zeiten fünf Tage Schlangestehen. Und erst nach Monaten oder nach einem Jahr läßt der Verhaftete selbst von sich hören, oder aber es wird einem das «Ohne Brieferlaubnis» an den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher