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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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wollen? Es würde doch, scheint’s, fürwahr genügen, allen in Aussicht genommenen Karnickeln Vorladungen zu schicken – und sie kämen auf die Minute genau zur bestellten Zeit eingetrudelt mit ihrem Bündel und marschierten gehorsam durch das schwarze Eisentor des Staatssicherheitsdienstes, um das Fleckchen Boden in der ihnen zugewiesenen Zelle in Besitz zu nehmen. (Mit dem Kolchosbauern wird es genauso gehandhabt, wozu auch die Mühe, nachts auf lausigen Straßen zu seiner Hütte zu fahren? Man beordert ihn zum Dorfrat, dort schnappen sie ihn. Einen Hilfsarbeiter bestellen sie ins Kontor.)
    Gewiß, keine Maschine kann mehr schaffen, als ihr in den Rachen geht. In den angespannten, randvollen Jahren 1945/46, als aus Europa Züge um Züge angerollt kamen, die allesamt verschlungen und auf den Archipel GULAG verfrachtet werden mußten, da fehlte schon solch überschüssiges Spiel, die Theorie selbst verblich, der rituelle Federschmuck fiel ab, und es glich die Verhaftung von Zehntausenden einem armseligen Appell: Vorn standen sie mit Namenslisten, ließen die Fracht aus einem Waggon antreten und in einen anderen verstauen, womit die ganze Verhaftung auch schon zu Ende war.
    Jahrzehntelang zeichneten sich die politischen Verhaftungen bei uns eben dadurch aus, daß Leute geschnappt wurden, die unschuldig waren – und daher auf keinerlei Widerstand vorbereitet. Die Folge war ein allgemeines Gefühl der Verlorenheit, die (bei unserem Paßsystem mitnichten unbegründete) Vorstellung, es sei unmöglich, der GPU-NKWD zu entfliehen. Und selbst in Zeiten wahrer Verhaftungsepidemien, als die Menschen sich allmorgendlich von ihrer Familie verabschiedeten, weil sie nicht sicher waren, abends nach der Arbeit auch wieder heimzukehren – selbst damals ergriff fast keiner die Flucht (und nur wenige begingen Selbstmord). Was ja auch bezweckt wurde. Ein sanftes Schaf ist des Wolfes Leckerbissen.
    Es geschah auch aus mangelnder Einsicht in die Mechanik der Verhaftungsepidemien. Die Organe verfügten meist über keine fundierte Motivierung für die Auswahl der zu Verhaftenden, der auf freiem Fuß zu Belassenden, sie hatten ja einzig und allein die Sollziffer zu erreichen. Die Erzielung der vorgegebenen Zahl konnte nach bestimmten Richtlinien erfolgen, ein andermal aber auch völlig zufällig sein. Im Jahre 1937 kam eine Frau ins Empfangsbüro der Nowotscherkassker NKWD, um sich zu erkundigen, was mit dem hungrigen Säugling ihrer verhafteten Nachbarin geschehen solle. «Nehmen Sie bitte Platz», sagte man ihr, «wir werden uns erkundigen.» Sie wartete zwei Stunden – dann führte man sie aus dem Empfangsraum in eine Zelle: Die Zahl mußte raschest «aufgefüllt» werden, an einsatzbereiten Mitarbeitern mangelte es – wozu in der Stadt suchen, wenn diese da schon hier war!
    Allgemeine Schuldlosigkeit bewirkt auch allgemeine Untätigkeit. Vielleicht holen sie dich nicht? Vielleicht geht’s vorbei? A. I. Ladyschenski, dem Oberlehrer an der Schule des gottverlassenen Städtchens Kologriw, wurde im siebenunddreißiger Jahr auf dem Markt von einem Bauern die Warnung zugesteckt: «Alexander Iwanytsch, geh fort, du bist in den Listen! » Er blieb: Hängt nicht die ganze Schule an mir, gehen nicht auch ihre Kinder in meine Klasse – warum sollten sie mich holen? … (Einige Tage später war er verhaftet.) Nicht jedem ist es wie Wanja Lewitski gegeben, mit vierzehn bereits zur Einsicht zu gelangen: «Jeder ehrliche Mensch kommt ins Gefängnis. Jetzt sitzt Papa, wenn ich groß bin – holen sie mich.» (Sie verhafteten ihn mit dreiundzwanzig.) Die schimmernde Hoffnung läßt die meisten dumm werden. Ich bin unschuldig, warum sollten sie mich holen? Ein Mißverständnis! Schon packen sie dich am Kragen, schleifen dich fort, du aber kannst es nicht lassen, dich selbst zu beschwören: «Ein Mißverständnis! Es wird sich erweisen! » Die anderen holen sie massenweise, ohne Logik auch dort, und doch bleibt in jedem einzelnen Fall ein Vielleicht: «Vielleicht ist gerade der …? » Du aber, du bist doch ohne Zweifel unschuldig! Für dich sind die Organe eine menschlich-logische Institution: Unschuld erwiesen – in Freiheit gesetzt.
    Wozu solltest du demnach davonlaufen? … Und warum solltest du dann Widerstand leisten? … Du würdest deine Lage damit bloß verschlimmern, die Wahrheitsfindung erschweren. Was Widerstand?! – Auf Zehenspitzen, wie befohlen, gehst du die Treppe hinab, damit die Nachbarn gottbehüt nichts hören.
    Und dann –

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