Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Prolog
Im Jahre 1949 etwa fiel uns, einigen Freunden, eine bemerkenswerte Notiz aus der Zeitschrift Die Natur, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften, in die Hände. Da stand in kleinen Lettern geschrieben, man habe bei Ausgrabungen am Fluß Kolyma eine unterirdische Eislinse freigelegt, einen gefrorenen Urstrom, und darin ebenfalls eingefrorene Exemplare einer urzeitlichen (einige Jahrzehntausende zurückliegenden) Fauna. Ob’s Fische waren oder Tritonen: der gelehrte Korrespondent bezeugte, sie seien so frisch gewesen, daß die Anwesenden, sobald das Eis entfernt war, die Tiere MIT GENUSS verspeisten.
Die keineswegs zahlreichen Leser der Zeitschrift waren wohl nicht wenig verwundert zu erfahren, wie lange Fischfleisch im Eis seine Frische zu bewahren imstande ist. Doch nur einzelne vermochten den wahren, den monumentalen Sinn der unbesonnenen Notiz zu erfassen.
Wir begriffen ihn sofort. Wir sahen das Bild klar und in allen Details vor uns: Wie die Anwesenden mit verbissener Eile auf das Eis einhackten; wie sie, alle hehren Interessen der Ichthyologie mit Füßen tretend, einander stoßend und vorwärtsdrängend, das tausend Jahre alte Fleisch in Stücke schlugen, diese zum Feuer schleppten, auftauen ließen und sich daran sättigten.
Wir begriffen es, weil wir selbst zu jenen Anwesenden gehörten, zu jenem auf Erden einzigartigen mächtigen Stamm der Seki, der Strafgefangenen, der Lagerhäftlinge, die allein es zustande brachten, einen Triton MIT GENUSS zu verspeisen.
Kolyma aber war die größte und berühmteste Insel, ein Grausamkeitspol in diesem sonderbaren Land GULAG, das die Geographie in Inseln zerrissen, die Psychologie aber zu einem festen Kontinent zusammengehämmert hat, jenem fast unsichtbaren, fast unspürbaren Land, welches besiedelt ist von besagtem Volk der Seki.
Das Inselland ist eingesprenkelt in ein anderes, das Mutterland; kreuz und quer durchsetzt es seine Landschaft, bohrt sich in seine Städte, überschattet seine Straßen – und trotzdem haben manche nichts geahnt, viele nur vage etwas gehört, bloß die Dortgewesenen alles gewußt.
Doch als ob sie auf den Inseln des Archipels die Sprache verloren hätten, hüllten sie sich in Schweigen.
Durch eine unerwartete Wendung in unserer Geschichte kam einiges über das Inselreich – verschwindend weniges – ans Tageslicht. Dieselben Hände aber, die uns die Handschellen angelegt, strecken sich uns nun in versöhnlicher Geste entgegen: «Wozu? … wozu Vergangenes aufwühlen? … ‹An Vergangenem rühren – ein Auge verlieren!›» Das Sprichwort stimmt, allein, sie verschweigen, wie es zu Ende geht: «Vergangenes vergessen – beide Augen verlieren!»
Es vergehen Jahrzehnte, die Narben und Geschwüre verblassen mit der Zeit und damit für immer. Manch eine Insel ist inzwischen erschüttert worden und zerronnen, das Eismeer des Vergessens läßt seine Wogen über sie hinwegrollen. Und irgendwann im kommenden Jahrhundert werden dieses Inselreich, seine Luft und die Gebeine seiner Bewohner, in einer Eislinse eingefroren, als unglaubwürdiger Triton erscheinen.
Ich wage es nicht, die Geschichte des Archipels zu schreiben; der Zugang zu Dokumenten war mir verschlossen. Aber werden sie jemals für jemanden zugänglich sein? … Die sich nicht ERINNERN wollen, hatten (und haben) Zeit genug, alle Dokumente bis aufs letzte Blatt zu vernichten.
Der ich gelernt habe, meine dort verbrachten elf Jahre nicht als Schande, nicht als verfluchten Alptraum zu verstehen, sondern jene häßliche Welt beinahe zu lieben; der ich jetzt durch glückliche Fügung zum Vertrauten vieler späten Erinnerungen und Briefe wurde: Vielleicht gelingt es mir, etwas aus Knochen und Fleisch hinüberzuretten? – aus noch lebendem Fleisch übrigens, vom heute noch lebenden Triton.
In diesem Buch gibt es weder erfundene Personen noch erfundene Ereignisse. Menschen und Schauplätze tragen ihre eigenen Namen. Wenn Initialen gebraucht werden, geschieht dies aus persönlichen Überlegungen. Wenn Namen überhaupt fehlen, dann nur darum, weil das menschliche Gedächtnis sie nicht behalten hat – doch es war alles genau wie beschrieben.
Dieses Buch allein zu schaffen, hätte ein einzelner nicht die Kraft gehabt. Außer dem, was ich vom Archipel mitnahm, am Leib, im Gedächtnis, durch Aug und Ohr, dienten mir als Material die Erzählungen, Erinnerungen und Briefe von 227 Personen, deren Namen hier verzeichnet stehen müßten.
Persönliche Dankbarkeit vermag ich
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