Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
geworfen. Das aber heißt – für immer. «Ohne Brieferlaubnis», das steht fast sicher für: erschossen.
So stellen wir uns die Verhaftung vor.
Es stimmt auch. Die nächtliche Verhaftung von der beschriebenen Art erfreut sich bei uns gewisser Beliebtheit, weil sie wesentliche Vorzüge zu bieten hat. Alle Leute in der Wohnung sind nach den ersten Schlägen gegen die Tür vor Entsetzen gelähmt. Der zu Verhaftende wird aus der Wärme des Bettes gerissen, steht da in seiner halbwachen Hilflosigkeit, noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Bei einer nächtlichen Verhaftung ist das Einsatzkommando in einer stärkeren Position: Sie kommen, ein halbes Dutzend bewaffneter Männer gegen einen, der erst die Hose zuknöpft; mit Sicherheit ist auszuschließen, daß sich während der Abführung und der Haussuchung am Hauseingang mögliche Anhänger des Opfers sammeln. Das gemächliche und systematische Aufsuchen von einer Wohnung hier, einer anderen dort, einer dritten und vierten in der drauffolgenden Nacht gewährt den bestmöglichen Einsatz des operativen Personals und die Inhaftierung einer vielfach größeren Zahl von Einwohnern, als der Personalstand ausmacht.
Einen weiteren Vorzug zeigen die nächtlichen Verhaftungen auch darin, daß weder die Nachbarhäuser noch die Straßen zu sehen bekommen, wie viele da nächtens abtransportiert werden. Erschreckend für die allernächsten Hausparteien, sind sie für die Entfernteren nicht existent. Sind wie nicht dagewesen. Über denselben Asphaltstreifen, über den zur nächtlichen Stunde Gefangenenwagen hin und her flitzen, marschieren am hellen Tage frohgemute Jugendscharen, mit Fahnen und Blumen und unbeschwerten Liedern.
Doch die Verhaftenden, deren Dienst ja einzig aus solchen Akten besteht, denen die Schrecken der Festzunehmenden längst etwas Vertrautes und Öde-Langweiliges geworden sind, betrachten den Inhaftnahmevorgang in einem viel weiteren Sinne. Die haben eine große Theorie; man glaube nur ja nicht naiv, es gäbe sie nicht. Die Inhaftnahme, das ist ein wichtiger Abschnitt im Lehrplan der allgemeinen Gefängniskunde, in der eine grundlegende gesellschaftliche Theorie als Basis nicht fehlt. Die Verhaftungen werden nach bestimmten Merkmalen klassifiziert: Verhaftungen am Tag und in der Nacht; zu Hause, im Dienst und unterwegs; erstmalige und wiederholte; Einzel-und Gruppenverhaftungen. Die Verhaftungen werden nach dem Grad der erforderlichen Überrumpelung eingestuft und nach der Stärke des zu erwartenden Widerstandes (doch in Dutzenden Millionen von Fällen wurde kein Widerstand erwartet und auch keiner geleistet). Die Verhaftungen unterscheiden sich nach der Gewichtigkeit der geplanten Haussuchung; nach der Notwendigkeit, bei der Beschlagnahme Protokolle zu führen, das Zimmer oder die Wohnung zu versiegeln, welche Notwendigkeit nicht immer gegeben ist; je nach Bedarf im weiteren Verlaufe auch die Frau des Abgeführten zu verhaften, die Kinder aber ins Kinderheim zu bringen, bzw. den Rest der Familie in die Verbannung, bzw. auch noch die greisen Eltern ins Lager.
O nein, die Formen der Verhaftung sind mitnichten eintönig. Frau Irma Mendel, eine Ungarin, erhielt einmal (im Jahre 1926) in der Komintern zwei Karten für das Bolschoitheater, die Plätze ganz vorn. Der Untersuchungsrichter Klegel machte ihr den Hof, so lud sie ihn ein, mit ihr zu gehen. Sie verbrachten einen trauten Abend, danach fuhr er sie direkt … auf die Lubjanka. Und wenn 1927 auf dem Kusnezki-Most die rundwangige, blondzöpfige Schönheit Anna Skripnikowa, die sich eben blauen Stoff für ein Kleid gekauft hatte, von einem jungen Gecken in eine Droschke verfrachtet wird (und der Kutscher, der hat schon begriffen und schaut finster drein: um den Fuhrlohn ist er bei den Organen betrogen) – dann sollten Sie wissen, daß dies kein romantisches Rendezvous ist, sondern auch eine Verhaftung: Gleich biegen sie zur Lubjanka ein und fahren in den schwarzen Rachen des Tores. Nein, niemals vernachlässigt man bei uns die Verhaftung am Tage, und die Verhaftung unterwegs, und die Verhaftung in brodelnder Menschenmenge. Und es klappte dennoch immer, und die Opfer selbst – das ist das Seltsame daran! – benehmen sich, in voller Übereinstimmung mit den Verhaftenden, maximal wohlerzogen, auf daß die Lebenden vom Untergang des Gezeichneten nichts bemerken.
Nicht jedermann ist in seinem Heim, nach vorherigem Klopfen an der Tür, festzunehmen, nicht jedermann auch an seinem Arbeitsplatz. Bei
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