Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
ihnen nicht auszudrücken: Dieses Buch ist unser gemeinsames Denkmal für alle Gemordeten und zu Tode Gemarterten.
Viele haben mir geholfen, meine Darstellung mit bibliographischen Stützpfeilern zu untermauern: mit Zitaten aus Büchern der heutigen Bibliotheksbestände, aber auch aus solchen, die längst eingezogen und vernichtet worden sind, so daß es hartnäckigen Suchens bedurfte, ein übriggebliebenes Exemplar aufzustöbern; und mehr noch sind jene hervorzuheben, die geholfen haben, das Manuskript in manch schwerem Augenblick zu verstecken und später zu vervielfältigen.
Doch die Stunde, da ich es wagen könnte, sie zu nennen, ist noch nicht gekommen.
Der lang eingesessene Häftling des Lagers im Kloster Solowki, Dmitrij Petrowitsch Witkowski, hätte der Redakteur dieses Buches sein sollen. Doch das halbe Leben, dort verbracht (seine Lagererinnerungen heißen auch so: «Ein halbes Leben lang»), rächte sich an ihm mit vorzeitiger Paralyse. Bereits unfähig zu sprechen, konnte er nur mehr einige abgeschlossene Kapitel lesen und sich davon überzeugen, daß ÜBER ALLES BERICHTET WERDEN WIRD.
Sollte meinem Land die Freiheit noch lange nicht dämmern, dann wird das Lesen und Verbreiten dieses Buchs allein schon eine große Gefahr bedeuten, so daß ich auch vor den zukünftigen Lesern mich in Dankbarkeit verneigen muß – anstelle von jenen, den Zugrundegegangenen.
Als ich dieses Buch 1958 zu schreiben begann, waren mir irgendwessen Memoiren oder künstlerische Werke über die Lager nicht bekannt. Ehe es 1967 vollendet war, lernte ich allmählich Warlam Schalamows Kolyma-Erzählungen und die Erinnerungen von Dmitrij Witkowski, Jewgenija Ginsburg, S. Adamowa-Sliosberg kennen, auf die ich mich im weiteren wie auf allseits bekannte literarische Fakten berufe (denn eines Tages werden sie es doch sein).
Entgegen ihren Absichten, wider ihren Willen, haben mir folgende Autoren wertvolles Material für dieses Buch geliefert, indem sie viele wichtige Tatsachen, auch Zahlen, ja, die Atmosphäre selbst festhielten, in der sie lebten: M. I. Lazis (Sudrabs); N. W. Krylenko – während vieler Jahre Staatsanwalt; sein Nachfolger A. J. Wyschinski mit seinen juristischen Helfershelfern, von denen besonders I. L. Awerbach zu nennen ist.
Material für dieses Buch lieferten auch SECHSUNDDREISSIG VON MAXIM GORKI angeführte sowjetische Schriftsteller, die Verfasser des Buches über den WeißmeerKanal, jenes schändlichen Werkes, in dem zum ersten Mal in der russischen Literatur der Sklavenarbeit Ruhm gesungen wurde.
Erster Teil
Die Gefängnisindustrie
«In der Epoche der Diktatur, überall umgeben von
Feinden, zeigten wir manchmal unnütze Milde, unnütze Weichherzigkeit.»
Staatsanwalt Krylenko während des Prozesses gegen die Industriepartei, 1930
1
Die Verhaftung
Wie gelangt man auf diesen geheimnisvollen Archipel? Stunde für Stunde machen sich Flugzeuge, Schiffe, Züge auf den Weg dorthin – doch es weist keine einzige Inschrift den Bestimmungsort aus. Beamte am Fahrkartenschalter würden nicht weniger erstaunt sein als ihre Kollegen vom Sowtourist- oder Intourist -Reisebüro, wollte jemand eine Fahrt dorthin buchen. Sie kennen weder den Archipel als Ganzes noch eine seiner zahllosen Inseln, sie haben nie etwas davon gehört.
Wer hinfährt, um den Archipel zu regieren, der nimmt den Weg durch die Lehranstalten des MWD [1] .
Wer hinfährt, um den Archipel zu bewachen, der wird von der Militäreinberufungsstelle hinbeordert.
Und wer hinfährt, um dort zu sterben, wie wir beide, Sie, mein Leser, und ich, dem steht dazu unausweichlich und einzig der Weg über die Verhaftung offen.
Die Verhaftung! Soll ich es eine Wende in Ihrem Leben nennen? Einen direkten Blitzschlag, der Sie betrifft? Eine unfaßbare seelische Erschütterung, mit der nicht jeder fertig werden kann und vor der man sich oft in den Wahnsinn rettet?
Das Universum hat so viele Zentren, so viele Lebewesen darin wohnen. Jeder von uns ist ein Mittelpunkt des Alls, und die Schöpfung bricht in tausend Stücke, wenn Sie es zischen hören: «SIE SIND VERHAFTET!»
Wenn schon Sie verhaftet werden – wie soll dann etwas anderes vor diesem Erdbeben verschont bleiben?
Unfähig, diese Verschiebungen im Weltall mit benebeltem Gehirn zu erfassen, vermögen die Raffiniertesten und die Einfältigsten unter uns in diesem Augenblick aus der gesamten Erfahrung ihres Lebens nichts anderes herauszupressen als dies:
«Ich?? Warum denn??» – Eine Frage, die schon zu
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