Der Atem der Apokalypse (German Edition)
lange nach einem Weg suchen, bis ihr einen gefunden habt. All das, was
hier
ist, was wir gebaut haben, was wir so mühsam erschaffen haben, wird seinen Wert verlieren, weil alle den Himmel wollen. Und wenn es ihnen gelingt, die Gänge zu öffnen, werden sie ihrem Herrgott begegnen. Und er wird sie vernichten.«
»Hören Sie nicht auf ihn, Jones.« Dr. Cornell beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Sie dürfen nicht auf ihn hören – ich versende die Information selbst – ich …« Er stürzte vor, doch Freeman schubste ihn auf den Stuhl zurück.
»Denken Sie nicht einmal daran.«
Eine lange Pause entstand.
»Manchmal«, sagte Mr Bright so leise, dass Cass ihn fast nicht verstand, »zählt nur das Allgemeinwohl.«
Cass ließ den Blick von Mr Bright zu Dr. Cornell wandern.
Das Allgemeinwohl.
Es waren Brights Worte, doch auch Dr. Cornell war sicher der Meinung, im Interesse aller zu handeln. Cass war sich nicht sicher. Diente die Verbreitung der Wahrheit dem Allgemeinwohl? Hatte Dr. Cornell recht? Hatte die Menschheit ein Anrecht auf die Wahrheit? Oder ging es dem alten Mann nur um seine persönliche Rache und argumentierte er deshalb entsprechend? Cornell hielt sich vielleicht für selbstlos, doch Cass hatte seine Zweifel. Sein Leben lang war er bis an die Grenze der Lächerlichkeit vom Netzwerk besessen gewesen. Jetzt konnte er endlich ein wenig Ruhm einheimsen. Und dann war da noch die Macht als solche, Mr Bright, der stets im Schatten die Fäden zog und Entscheidungen fällte, die sie alle betrafen. Handelte er wirklich im Sinne des Allgemeinwohls?
Cass dachte an die Studenten, die sich nach dem Experiment umgebracht hatten. Mr Bright hatte ihre Unschuld ausgenutzt. Ihre Wahrheit war verloren gegangen und ihre Familien würden von den wahren Umständen, die zu ihrem Tod geführt hatten, nie etwas erfahren. Konnte er damit leben? Würde sich die Welt wirklich verändern, wenn die Menschen die Wahrheit erfuhren? Er sah den silberhaarigen Mann an, dessen Blick im Laufe der letzten neun Monate an Glanz verloren hatte. Er merkte, dass er nicht mehr glaubte, Mr Bright hätte aus reiner Bosheit gehandelt, so schlimm seine Taten auch waren. Wie schwer waren ihm diese Entscheidungen gefallen? Und wie würden sich Bright und das Netzwerk jetzt verändern, da die Gänge für immer verschlossen waren? Bot sich jetzt die Gelegenheit, dass sie sich tatsächlich für das Allgemeinwohl einsetzten? Zigarettenrauch brannte in seiner Kehle. Er dachte an das Leuchten. Er dachte an Luke. Er dachte an alles, was er über sich selbst gelernt hatte. Er dachte an die Welt, die er liebte, so hart sie auch war.
Das Allgemeinwohl. Er starrte auf den Bildschirm und von dort in Dr. Cornells verzweifelte Augen. Er war sich hundertprozentig sicher, dass er für den Zusammenbruch dieses Mannes verantwortlich wäre, wenn er die Dateien löschte. Da konnte er ihm auch gleich zwischen die Augen schießen.
Das Allgemeinwohl.
Cass wusste, was er zu tun hatte, und sein Herz raste vor Erleichterung. Er hatte seine Wahl getroffen und glaubte im Grunde auch, dass er eigentlich vorher nie eine gehabt hatte.
Er drückte auf die Taste.
Dr. Cornell heulte wie ein waidwundes Tier, als Cass die Dateien löschte, und er heulte, bis Brian Freeman ihn mit Chloroform zum Schweigen brachte. Cass hatte es ja gewusst, dass er den Mann mit seiner Entscheidung um den Verstand bringen würde.
»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte Freeman.
»Lass ihn eine Weile bewusstlos bleiben«, sagte Cass, bevor Mr Bright etwas sagen konnte. »Bring ihn mit seinem Kram nach Hause. Wer wird ihm glauben, wenn er aufwacht und seine Geschichte erzählen will?«
»Die stecken ihn in die Irrenanstalt«, murmelte Freeman. »Armer Teufel, das war zu viel für ihn.«
»Ja, so wird es kommen, und ja, es war zu viel«, sagte Cass. »Es ging nicht anders.« Er sah den alten Gangster an.
»Und du, sagst du nichts dazu? Zu dem, was ich gerade getan habe?«
Freeman trank seinen Whisky aus. »Wir unterscheiden uns gar nicht so sehr«, sagte er mit Blick auf Mr Bright. »Ich habe zeitlebens im Schatten gearbeitet. Ich verstehe das Bedürfnis, Dinge geheim zu halten. Wissen ist wichtig, Cass, versteh mich nicht falsch, mein Sohn. Aber nicht für alle, nur für mich.«
Cass lächelte. Allmählich kam er auch zu diesem Ergebnis.
Epilog
An Neujahr standen die beiden Männer nebeneinander an den Panoramafenstern und blickten auf die weite Londoner City hinaus, während sie die
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