Der Atem der Apokalypse (German Edition)
immer schon der Überflieger in der Familie.« Er lächelte sanft. »Und im Notfall weißt du, wo du mich findest.«
»Danke.« Cass runzelte die Stirn. »Hatten Sie nicht noch was mitgebracht?«
»Stimmt – mein Gedächtnis war auch schon mal besser.« Er reichte Cass einen gefalteten Zettel. »Dieser Dr. Stuart Cornell war eine Zeitlang regelrecht besessen von deinem Vater. Phasenweise hat er ständig angerufen und vor eurem Haus rumgelungert. Er hat gerufen, dass dein Vater ihm helfen müsse, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er ist vielleicht völlig verrückt, aber zu seiner Zeit war er ein ziemlich angesehener Theologe, und bei all dem Wahnsinn könnte sich ein Besuch bei ihm vielleicht lohnen. Schaden kann es jedenfalls nicht.«
»Vielen Dank.« Cass starrte auf den Namen, der auf dem Zettel stand, und steckte ihn dann in die Jeanstasche.
»Und jetzt?«
»Sie gehen als Erster. Ich warte noch eine Viertelstunde. Ich glaube, es passiert nichts – falls Ihnen jemand gefolgt wäre, hätte man mich längst festgenommen.« Seine Zuversicht war gespielt. Schließlich war nicht nur die Polizei hinter ihm her. Er ging davon aus, dass auch Mr Bright weiterhin daran interessiert war, wie gut oder schlecht es ihm ging – von dem sonderbaren Mädchen und dem alten Mann ganz zu schweigen, die ihn gerettet hatten, nachdem man ihn angeschossen hatte.
Es wurde erneut peinlich, als der Priester darum rang, sich angemessen zu verabschieden. Cass spürte, dass der alte Mann ihn umarmen wollte, doch so weit konnte er sich nicht entspannen. Stattdessen streckte er die Hand aus. »Es war schön, Sie zu sehen.« Das meinte er ernst. »Ich melde mich.«
»Tu das bitte wirklich, Cass Jones. Melde dich.« Der Priester lächelte ihn noch einmal an, ehe er zum Altar ging und das Kreuz schlug. Dann drehte er sich um und verließ die Kirche, ohne sich noch einmal umzusehen.
Zwanzig Minuten später schlenderte Cass Jones durch Loughton. Er nahm die High Street zu der Wohnung, die er vor zwei Wochen bezogen hatte. Cass konnte es nicht abwarten, endlich wieder loszulegen. Seine Verletzung war fast verheilt – wenn er den ständigen Schmerz in der Schulter und das Kribbeln in seiner linken Hand ignorierte, mit der nicht mehr viel anzufangen war. Im Kino sah ein Schuss in die Schulter immer wie ein Kratzer aus, doch in Wirklichkeit war es sehr viel härter. Cass konnte froh sein, dass er noch lebte und das Gelenk nicht zertrümmert war. Sonst hätte er noch so viel Physiotherapie machen und seinen Arm trotzdem niemals wieder richtig bewegen können.
Auch so konnte er nur so schwächlich zugreifen, dass es fast nichts nutzte, und es sah nicht so aus, als würde sich das in nächster Zeit ändern. An Brian Freeman dachte er inzwischen mit mehr Respekt. Der Mann musste beinahe verblutet sein, als er die ganze Nacht mit den Jamaikanern im Hinterzimmer des Billardclubs geblieben war. Cass wusste nicht, ob es tapfer oder dämlich von Freeman gewesen war, aber auf jeden Fall war er ein verdammt harter Typ. Und das bedeutete, dass auch Cass entweder mutig oder bescheuert gewesen war, als er ihn vor all den Jahren weggeschickt hatte.
Der Dezemberwind fegte durch die dunkler werdende Nacht und es fühlte sich komisch an, als er seine längeren Haare zerzauste. Früher waren seine kurz geschorenen Stoppeln dunkel gewesen, aber jetzt hatte er eine hellbraune Wuschelfrisur, selbst gefärbt. Wenn man dazu bedachte, wie sehr er in den letzten zwei Monaten abgenommen hatte, hätte ihn wahrscheinlich nicht einmal seine Mutter erkannt, geschweige denn DS Armstrong oder Commander Fletcher. Dennoch ging er entgegen seiner natürlichen Haltung mit gesenktem Kopf und leicht gebeugt weiter, denn selbst hier am Rand des Epping Forest, einer Ecke im Nordosten Londons, die schon eher zu Essex als zur City gehörte, ging er lieber auf Nummer Sicher.
Das Gewicht des Koffers in seiner gesunden Hand betonte noch die Schwäche seiner linken. Er fühlte sich verwundbar, aber das ließ sich nicht ändern. Er brauchte die Fotos und die Papiere, die er nach Christians Tod in seinem Elternhaus gefunden hatte. Die Antwort lag in der Vergangenheit, da war er sich ganz sicher.
Als die Straßenlaternen flackernd aufleuchteten, schwamm er im Strom der Pendler mit, die aus der U-Bahn in die Sicherheit ihrer Wohnungen zurückstrebten.
Obwohl er sich vorgenommen hatte, jeden Blickkontakt zu vermeiden, fiel es ihm schwer, manche Leute nicht anzustarren. Warum trugen
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