Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
1. KAPITEL
Der Penner trug Pink. Ein Ballkleid, um genau zu sein. Er war vom Hals bis zu den Knien in kaugummifarbenen Taft gehüllt. Seine spinnenartigen Gliedmaßen, schmutzig und schwarz behaart, standen im falschen Winkel ab. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer Lache mitten auf dem MLK Drive und wurde erst um 3:16 Uhr morgens entdeckt.
Andre Banks (28 Jahre alt) und sein Mops Moira (3 Jahre alt) machten gerade einen Spaziergang. Andre lief gegen seine Schlaflosigkeit an. Seine Eltern wollten zu Besuch kommen, und das verhieß nie etwas Gutes. Andre und Moira blieben normalerweise immer auf der Lincoln Street, der schwach beleuchteten Sackgasse, in der sie lebten, doch der junge Mann musste heute gegen eine besonders ausgeprägte Schlaflosigkeit anlaufen. Moria stellte sicher, dass sie keinen einzigen Hydranten auf ihrem Weg versäumten; sie taufte gerade den elften, als Andre den Obdachlosen in der Straße entdeckte.
Auch in Atlanta war es im Januar eiskalt. Obdachlose schliefen im Januar nicht einfach mitten auf dem MLK Drive, und schon gar nicht in nagelneuen Ballkleidern. Dieser Obdachlose jedoch lag fast exakt in der Mitte des milchigen Ovals einer brummenden Straßenleuchte. Andre starrte durch die Nebelwolke seines Atems auf den Mann, dann sah Moira, die gerade ihr Ritual beendet hatte, ihn auch und bellte.
Angefeuert von seinem lauten kleinen Hund verließ Andre den Bürgersteig und näherte sich dem auf dem Gesicht liegenden Mann. Er kümmerte sich gar nicht erst um den Verkehr, weil es erstens 3:16 Uhr war und zweitens dieser Teil des MLK Drives auf beiden Seiten wegen (nicht zu erkennender) Straßenarbeiten mit Holzbarrieren abgesperrt war. Moira lief ihm voraus und zerrte an ihrer Leine. Sie konnte es kaum erwarten, diese rätselhafte pinkfarbene Gestalt zu erreichen. Sie bellte erneut und hüpfte aufgeregt in die Höhe. Die Gestalt regte sich nicht. Als sie in den elektrischen Lichtkegel traten, fragte Andre sich, was dazu geführt haben mochte, dass der Obdachlose hier lag (und auch noch so gekleidet!). War dieser Mann einmal erfolgreich gewesen? Hatte er eine Familie? Hatte seine Familie ihn rausgeworfen? Vielleicht gehörte das Ballkleid seiner Tochter, die gestorben war, und es zu tragen half dem Mann, sich an sie zu erinnern. Vielleicht war der Obdachlose ein Transvestit, und deswegen hatte seine Familie ihn zum Teufel gejagt. So was geschah in manchen Familien, sinnierte Andre, ohne auch nur eine Sekunde lang zu vergessen, dass seine eigenen Eltern, ein Bollwerk der Enttäuschung, in zehn Stunden auf dem Hartsfield-Jackson International Airport landeten und …
Moira sprang auf den in Taft gehüllten Rücken des Penners und begann, seinen Nacken zu lecken.
„Hey!“ Andre zog an der Lederleine. „Böser Hund!“
Mit einem gereizten Wimmern setzte Moira sich zur Wehr. Sie schleckte erneut über den Nacken und ließ sich das Salz schmecken. Andre zerrte seinen Mops von dem Mann herunter, und dann erst wurde ihm klar, dass der Obdachlose überhaupt nicht reagierte. Er stöhnte nicht, ja er atmete nicht einmal.
„Scheiße“, murmelte Andre und wählte um 3:18 Uhr (laut seinem Handy) die Nummer des Notrufs.
Es dauerte zwanzig Minuten, bis die Polizei kam. Dieser abgesperrte Teil des MLK Drive war keine besonders gute Gegend. Der Rasen des Parks fünfzehn Meter von der Leiche entfernt war rostig, als ob die Vernachlässigung ihn in altes Metall verwandelt hätte. Dreißig Meter weiter, am Ende des Parks, ragte ein dreistöckiger Betonklotz in die Höhe, die Hosea Williams Elementary School. Ihre Fenster waren vergittert. Andre unterrichtete Sport an der Hosea Williams. Seine Eltern billigten diesen Job nicht, und noch viel weniger diese Gegend. Niemand tat das.
Da die Polizei zwanzig Minuten brauchte, führte Andre seinen Hund weiter spazieren. Er wusste, dass er Zeit hatte, und Moira war unruhig. Er führte sie bis zur nächsten Straßenecke, vorbei am Atlanta Food Shop (mit Brettern vernagelt) und dem roten Backsteingebäude der Holy Life Baptist Church (mit einem Tor abgesperrt). Dort schließlich hörte Andre die Polizeisirene. Er kam ungefähr zur selben Zeit wieder bei der Leiche an, als der Streifenwagen um die Absperrung herumfuhr.
Zwei Cops stiegen von Frittengeruch umweht aus. Sie stellten die Sirene ab, ließen aber das rotblaue Polizeilicht in trägem Rhythmus über die Straße tanzen. Moira, die mehr oder weniger farbenblind war, interessierte sich nicht für das
Weitere Kostenlose Bücher