Der Atem des Rippers (German Edition)
1
Diese Geschichte ist Fiktion, doch sie lehnt sich eng an die historischen Tatsachen im Kriminalfall „Jack the Ripper“ an. Die darin zitierten Zeitungsartikel sind durchweg authentisch, wurden lediglich ins Deutsche übertragen und an einigen wenigen Stellen gekürzt.
Als die Stunde des alten Mannes gekommen war, rief Schwester Ellen den diensthabenden Arzt und einen Pfleger herbei. Sie tat es ohne Eile, denn der Alte schwand nur langsam dahin, war sich des großen Schrittes bewusst, der vor ihm lag, verhielt sich ruhig und gefasst und zeigte keine Zeichen von Angst. Sie wagte es nicht, ihn zu fragen, ob er einen Priester wünschte, obwohl sie dies sonst immer tat – untypische Skrupel für sie, die sich gewöhnlich vor nichts und niemandem ängstigte und den Begriff der Pietät nicht erfunden hatte. War ein Pater sich nicht selbst Priester genug, wenn es ans Sterben ging? Redete er nicht in direkter Zwiesprache mit dem Herrn Jesus, und war damit jede Bemühung, zu dieser späten Stunde einen katholischen Geistlichen im anglikanisch geprägten England aufzutreiben, nicht vollkommen überflüssig?
Kaum waren Arzt und Pfleger zusammen mit der stämmigen Schwester im Zimmer des Sterbenden angekommen, begann der Alte zu reden. Er war abgemagert und schwach, sein Gesicht so fahl, dass er mit den Laken zu verschmelzen schien. Seine Finger zitterten jetzt weniger als vor einigen Minuten.
„Ich kann nicht sterben, ohne es losgeworden zu sein“, sagte er. Schwester Ellen hatte diese Worte oft vernommen. Manchmal verbargen sich Geheimnisse dahinter, denen man atemlos lauschte, doch meist Geschichten, die man vergaß, sobald man sie gehört hatte.
Von vielen der Erzählungen bekam man das Ende nicht mehr mit.
„Was ist es?“, fragte sie in fast amtlichem Ton. Er war ihr Patient. Sie mochte ein herzloses Stück Dreck sein, wie einige ihrer weniger gebildeten Patienten manchmal behaupteten, aber sie führte ihre Arbeit aus wie ein Uhrwerk. Tat, was zu tun war, sagte, was zu sagen war. Sterbende mussten zur Eile angetrieben werden. Sie hatten oft eine klare Vorstellung von dem, was sie erwartete, aber ein umso schlechteres Augenmaß für die Zeit, die ihnen auf dieser Erde noch blieb.
Der alte Priester zog die schweren Augenbrauen tief herab, bis sie sein Gesicht zu zerdrücken schienen. „Es fällt meinen Lippen nicht leicht, es auszusprechen“, formulierte er.
„Sie haben nicht die ganze Nacht“, bemerkte die Krankenschwester. „Es wird Ihren Lippen nicht leichter fallen, wenn sie erst kalt und starr sind.“
Der Sterbende nickte ernst. Die fischblütige Respektlosigkeit der Frau schien ihm nichts auszumachen; im Gegenteil, sie schenkte ihm offenbar neue Energie, denn seine Stimme klang fest, und seine Worte waren sauber gewählt, als er sagte: „Sie haben recht. Bitte hören Sie, was ich zu sagen habe, und denken Sie nicht, es seien die Fantastereien eines Sterbenden, die aus mir sprechen. Ich bin vollkommen Herr meiner Sinne. Aber was ich sagen will, ist: Ich kenne den Mörder von Whitechapel. Ich weiß, wer Jack the Ripper war und wo er sich heute befindet.“
Während die beiden Männer tief Luft holten, warf Schwester Ellen einen Blick auf die Krankenkarte des Patienten, nur des Datums wegen. Heute war der 8. März 1903. Vor vierzehneinhalb Jahren, im Sommer und Herbst 1888, hatte ein irrer Frauenmörder im Londoner Osten fünf oder sechs Prostituierte auf brutalste Weise ermordet. Noch heute waren die Verbrechen nicht vergessen; sie hatten einen schwarzen Fleck auf der Seele jedes Londoners hinterlassen, zumal der Täter bis heute nicht gefunden war.
Sie nickte. „Erzählen Sie“, meinte sie, und Pater Henry Ouston erzählte.
2
Mandalay war seit 1857 die Hauptstadt Burmas – eine grüne Stadt, in der es mehr Tempel und Paläste als Wohnhäuser zu geben schien. Tropische, vom Monsunregen beherrschte Sommer wechselten sich mit milden Wintern ab, in denen die Sonne heiß vom klaren Himmel herabbrannte. Heute, im Jahre 1903, waren an vielen Stellen Häuser im britischen Stil entstanden – schließlich gehörte das Land seit fast siebzehn Jahren zu Britisch Indien –, doch die eingeborene Bevölkerung hauste in nur primitiv zu nennenden Bambushütten im Schatten der goldenen Pagoden und Schlösser.
Die christliche Mission kam mehr als schleppend voran; die Burmesen waren ein strenggläubiges buddhistisches Volk – die Religion durchzog jeden Augenblick ihres Lebens, beschäftigte sie mit
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