Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
Prolog
1
Porta Appia in
Rom, kurz vor Mitternacht (20.1.1416)
»Santa Maria Vergine – steh mir bei!«
Und das ausgerechnet ihm. Lorenzo, die Ruhe in Person,
bekreuzigte sich. Er hatte Angst. Angst wie nie zuvor.
Als der Spuk begann, der ihn mit Brachialgewalt aus
dem Halbschlaf riss, war er eingenickt. Die Schafweide war mit Raureif bedeckt,
und das Mitternachtsläuten von San Sebastiano hallte durch die Nacht. In der
Ferne, inmitten von Pinien, Steineichen und Zypressen, ragten die Türme der
Porta Appia empor, und auf den Ölbäumen sammelte sich bleifarbener Tau. Die
Grabmäler entlang der Heerstraße, Relikte aus ruhmreichen Tagen, ragten aus
grau gestreiften Dunstschleiern empor, und der Mond übergoss die Landschaft mit
fahlem Glanz. Selbst von den Straßenräubern, die hier, unweit der Tore Roms,
betuchten Pilgern auflauerten, war nichts zu sehen.
Alles war friedlich und still. Zumindest sah es danach
aus. Bis Lorenzos Nickerchen ein jähes Ende fand.
Als sich die Kolonne der Kapuzenmänner seinem
Rastplatz näherte, wäre der alte Hirte vor Schreck fast in Ohnmacht gefallen.
»Heilige Jungfrau Maria!«, wiederholte er und umklammerte seinen Stab,
unsicher, ob er ihn als Waffe benutzen oder nicht besser die Flucht ergreifen
solle. Dass er die Teilnehmer der nächtlichen Prozession nicht erkennen konnte,
war eine Sache. Eine andere, dass sie kein Wort miteinander sprachen. Fast
schien es, als seien sie nicht von dieser Welt. Wie Schattenwesen, die direkt
aus dem Hades kamen.
Doch damit nicht genug. Wie er in einem Anflug von
Panik bemerkte, trugen die Kapuzenmänner Sporen. Wie die piekfeinen Signori aus
den Palazzi drinnen in der Stadt. An sich nichts Ungewöhnliches. Ebenso wenig
wie die Tatsache, dass sich unter ihren Umhängen die Konturen von Schwertern
abzeichneten. Schließlich trieb sich hier draußen das übelste Gesindel von ganz
Rom herum. Vor allem bei Nacht. Aber selbst wenn, warum um alles in der Welt
hörte man dann ihr Klirren nicht? Vom Geräusch, das Stiefelabsätze auf
Plastersteinen machten, gar nicht zu reden.
Dies war der Moment, in dem seine Panik in nacktes
Entsetzen umzuschlagen begann. Er wollte in Deckung gehen, aber die Schafweide
bot keinerlei Schutz. Dummerweise war das nächstgelegene Mausoleum, Unterstand
an regnerischen Tagen, mindestens 100 Schritte entfernt. Für einen
Achtzigjährigen viel zu weit.
Und außerdem war es längst zu spät. Die Kapuzenmänner
waren höchstens noch 50 Schritt entfernt, mussten ihn eigentlich längst
entdeckt haben. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, und seine Knie waren so
weich, dass er fürchtete, sie würden ihren Dienst versagen.
Der alte Hirte war auf das Schlimmste gefasst.
Doch zu seiner Überraschung würdigten ihn die in
Zweierreihen gestaffelten Männer keines Blickes. Paar um Paar zog vorbei,
Fackeln in der Hand, mit starrem, wie erloschenem Blick. Der alte Hirte blieb
wie festgewurzelt stehen, und falls dies überhaupt möglich war, wich das letzte
Quäntchen Farbe aus seinem wachsbleichen Gesicht.
Und dann geschah es.
Der letzte, sich auf seiner Seite des Weges völlig
lautlos vorwärts bewegende Mann hob den Kopf. Tief in Gedanken, warf er seinem
Nebenmann einen flüchtigen Blick zu. Und dann, als dieser ihn nicht erwiderte,
blieb er abrupt stehen und warf einen Blick über die Schulter. Genau in die
Richtung, wo sich der Lagerplatz des Hirten befand.
Doch nahm ihn dieser kaum noch wahr.
Die knochigen Hände auf die linke Hälfte seines Brustkorbs gepresst, taumelte
er zunächst nach links, dann wieder nach rechts. Es schien, als wolle er etwas
sagen, aber alles, was aus seinem halb geöffneten, von Speichelfäden gesäumten
Munde kam, war zusammenhangloses Gestammel, das sich zu wildem, stoßweise
hervorgepresstem Keuchen steigerte.
Ein letztes Aufbäumen, weit aufgerissene Augen, deren
Pupillen sich wild im Kreise drehten – und der alte Hirte stürzte wie ein
gefällter Baum zu Boden.
Über das Gesicht des Kapuzenmannes, der die Szene
beobachtet hatte, huschte ein verstohlenes Lächeln. Dann hob er die rechte
Hand, schlug ein Kreuz und setzte seinen Weg fort. Kurz darauf war der Zug der
Vermummten verschwunden.
Lorenzo indes war noch nicht tot. Mit einer
Kraftanstrengung, die er sich selbst kaum zugetraut hätte, richtete er sich
nochmals auf. Nur kurz, aber lange genug, um die Silhouette des Kapuzenmannes
zwischen den Gräbern an der Via Appia wie eine Geistererscheinung verschwinden
zu sehen.
Dann
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