Der Atem des Rippers (German Edition)
Spaziergang durch die Altstadt begeben. Ich war am Abend des Vortags angekommen, hatte mein Quartier in einem kleinen, familiären Hotel bezogen und von der berühmten Basilika Sant’Antonio und einigen anderen Sehenswürdigkeiten nicht mehr als die Schatten gesehen, die sich gegen den tiefblauen Abendhimmel erhoben. Es verwunderte mich nicht, dass die gewaltige Basilika im frischen Sonnenlicht des Morgens keinen Deut weniger imposant wirkte als sie es in der Dämmerung des späten Abends getan hatte. Die gewaltige, doch schlichte Ziegelfassade wirkte kühl und nüchtern, die merkwürdigen hellen Kuppeln verliehen dem Bauwerk mehr Sachlichkeit als so manches Universitätsgebäude in England aufweisen konnte. Die Basilika, von der ich nicht mehr wusste, als dass sie dem heiligen Antonius geweiht war, zog mich in ihrer imposanten Schlichtheit an.
Und nicht nur mich.
Scharen von Menschen wimmelten lautstark in der Umgebung des Gebäudes, drängten hinein und heraus, und für einen Augenblick kam mir der absurde Gedanke, es müsse sich dort eine Art Wunder ereignet haben, ein Zeichen Gottes, das die Menschen in solche Aufregung versetzte.
Doch noch war es nicht soweit. Das Wunder wartete, wie ich heute weiß, auf mich. Erst wenn ich die Kirche betrat, konnte es sich ereignen. Es war keines der Wunder, das sich sofort zeigte. Die Öffentlichkeit würde es erst sieben magische Jahre später beschäftigen, in einem anderen Land, in einem anderen Zusammenhang.
Ich reihte mich ohne nachzudenken in die unordentliche Schlange der Menschen ein, die sich mit nervenaufreibender Langsamkeit in das Innere des Gotteshauses bewegte. Es bedarf der Erwähnung, dass ich zu diesem Zeitpunkt weder ein gläubiger noch ein ungläubiger Mensch war. Ich nehme an, die naive Frömmigkeit meiner Mutter vermischte sich in mir mit der ganz dem Diesseits verschriebenen Vergnügungssucht meines biologischen Vaters und diverser sozialer Väter und hielt sich bis zu jenem Tag in Norditalien die Waage.
In Wirklichkeit spürte ich bereits, wie Bewegung in die Waagschalen kam. Ich dachte an Wunder und bestaunte gleichzeitig die fast wissenschaftlich anmutende Nüchternheit dieser Kirche. Ich tauchte ein in die Massen der Entrückten und blieb dabei doch ausgesprochen distanziert, fühlte mich nicht dazugehörig, wie ein Beobachter, der nur hergekommen ist, um später irgendwann einmal einen Bericht über das zu schreiben, was er gesehen hat.
Dass ich die Sprache der Menschen um mich recht gut verstand, obwohl ich nie ein Wort Italienisch gelernt hatte, war keines der Wunder dieses Tages. Mein Studium der Medizin hatte eine intensive Beschäftigung mit der lateinischen Sprache mit sich gebracht, und wie dies an vielen Universitäten zwischen London und Wien der Fall ist, bedeutete es unter Studenten eine Art sportlichen Wettkampf, ganze Gespräche in der Sprache Ciceros zu führen. Ich hatte in dieser Sportart nicht zu den schlechtesten gehört, was mir nun zugute kam.
Den Rufen und Gesprächen entnahm ich, dass heute der Namenstag des Heiligen Antonius war. Dies erklärte vollständig den Menschenauflauf, der mich so überrascht hatte. Während ich mich auf das Portal der Kirche zutreiben ließ, schnappte ich Informationen über das Gotteshaus und den dort verehrten Heiligen auf. Über die verschiedenen Baustile, die sich in dem 1232 begonnenen Bauwerk vereinigten, wurde verständlicherweise weniger gesprochen als über den armen Franziskanerpriester, der am 13. Juni 1231 – heute vor genau 650 Jahren – in Padua gestorben war. Dass er unter anderem als Schutzheiliger der Reisenden fungierte, nötigte mir lediglich ein Lächeln ab … einer jener zahlreichen Zufälle, die das Leben mit sich bringt und die übertriebene Religiosität zu Wundern auszuschmücken geneigt ist.
So dachte ich damals. Heute weiß ich mehr. Heute weiß ich, dass die Gebeine des Heiligen Antonius mich gerufen haben. In England bereits musste ich ihren Ruf vernommen haben, ohne mir dessen bewusst zu werden, sonst hätte ich an jenem Tag nicht an seiner heiligen Stätte stehen können.
Die Ereignisse der folgenden Stunden kann ich nicht mit Exaktheit wiedergeben. Wenngleich sie bis ans Ende meiner Tage in meiner Erinnerung gegenwärtig bleiben werden, entziehen sie sich einer näheren Betrachtung und Einordnung, wie grelle Lichter, die durch dichten Nebel hindurch gleißen, ohne dass man ihre Form näher wahrnehmen kann.
Ich sehe mich im Rückblick ins Gespräch mit
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