Der Aufbewarier (German Edition)
Mal ein körperliches Unwohlsein, wenn er durch den langen Gang des Leichenschauhauses an der Hannoverschen Straße ging. Der Fußboden mit seinen freundlichen hellblauen und weißen Kacheln stand in einem seltsamen Gegensatz zur düsteren Atmosphäre des Gebäudes. Er blickte starr geradeaus und vermied es, durch die bodentiefen Fenster des Schautraktes in die Sektionsräume zu schauen, in denen sich Rechtsmediziner an Leichen unterschiedlichen Verwesungsgrades zu schaffen machten. Ihm reichte das Wissen, was dort geschah, um seinen Magen in Aufruhr zu versetzen ‒ es zu sehen, wäre über seine Kraft gegangen. Kurz vor dem Eingang in den großen Sektionssaal kam ihnen der Rechtsmediziner entgegen. Dr. Rudolf Teske entsprach äußerlich in keiner Weise dem Bild eines Leichendoktors. Groß, schlank, das dunkelblonde wellige Haar zurückgekämmt und etwas länger als die gegenwärtige Mode es wollte und der Zeitgeist es forderte, ähnelte er eher einem Künstler oder, worauf sein federnder Gang schließen ließe, einem Sportler. Anstatt den Arm zum deutschen Gruß zu strecken, reichte er Rösen die Hand.
»Herr Kommissar, schön, Sie so wohlauf zu sehen. Ich sehe, Sie haben Verstärkung dabei.«
»Der Kollege Daut, Herr Doktor.«
Jetzt winkelte Teske den Arm nachlässig zum Gruß, man konnte nie sicher sein, wie eine allzu saloppe Art bei Repräsentanten des Staates ankam: »Heil Hitler, Wachtmeister.«
»Herr Doktor«, brummte Daut und sehnte sich dabei nach einer Zigarette, die den im gesamten Gebäude herrschenden Geruch nach Fäulnis und Formaldehyd erträglicher machte.
Teske drehte sich auf dem Absatz um und öffnete die Tür zum Sektionssaal.
»Dann wollen wir mal.«
Er ging mit weit ausholenden Schritten durch den Raum mit seinen gut zwei Dutzend Sektionstischen, von denen etwa die Hälfte belegt war. Teske steuerte direkt auf eine Bahre am Rand des Raumes zu, unter der ein völlig deplatziert wirkender, abgewetzter, brauner Koffer stand. Die auf der Bahre befindliche Leiche war abgedeckt, und der Mediziner tat den Polizisten den Gefallen, es zunächst dabei zu belassen.
»Da haben wir also den Oberkörper samt rechtem Arm, den Sie mir gebracht haben. Wie Sie sicher schon gesehen haben, handelt es sich um Teile einer weiblichen Leiche. Das Alter der Frau ist nur annähernd zu bestimmen: nicht wesentlich jünger als dreißig und nicht wesentlich älter als fünfzig.«
»Können Sie etwas zur Todesursache sagen, Doktor?« Rösen wollte endlich zur Sache kommen.
»Nun mal langsam, normalerweise interessiert euch Kriminale doch zuerst der Todeszeitpunkt. Zumal das eines der wenigen Dinge ist, über die ich in diesem Fall halbwegs gesicherte Auskunft geben kann. Die Frau starb spätestens vor etwa sechzig Stunden.«
Daut war insgeheim stolz, dass er den Todeszeitpunkt richtig geschätzt hatte, und ergänzte: »Also Donnerstagmorgen.«
Teske nickte. »Genau. Frühestens dürfte sie zwölf Stunden eher das Zeitliche gesegnet haben, was den möglichen Sterbezeitraum auf die Nacht vom vergangenen Mittwoch auf Donnerstag eingrenzt.«
»Todesart?« Rösen dauerte das Ganze einfach zu lange.
»Da haben wir ein Problem.« Der Doktor hob das Tuch über dem Körper an und schlug es mit einem Schwung zurück wie ein Magier im Varieté. Fast hätte Daut einen Trommelwirbel mit Tusch erwartet, zumal tatsächlich Zauberei im Spiel zu sein schien, denn unter dem Oberkörper der Frau lagen zwei Beine.
»Wie Sie sehen, ist unsere Dame inzwischen etwas vollständiger geworden. Die Beine gehören mit großer Wahrscheinlichkeit zum Oberkörper. Allerdings hilft uns das bei der Bestimmung der Todesursache nicht weiter. Der Körper ist nahezu vollständig ausgeblutet. Ob sie wegen dieses Aderlasses gestorben ist oder man ihre Adern erst nach dem Tod geöffnet hat, lässt sich nicht sagen. Anhand der Wundränder an den abgeschnittenen Körperteilen kann man davon ausgehen, dass die Frau schon tot war, bevor man Kopf und Beine abtrennte. Ziemlich fachmännisch übrigens und mit einem sehr scharfen Messer.«
Der Doktor deutete auf den rechten Oberschenkelstumpf der Frau. »Hier, fühlen Sie mal, sehr saubere Arbeit.«
Weder Rösen noch Daut machten Anstalten, seiner Aufforderung zu folgen. Stattdessen stellte Daut die Frage aller Fragen:
»Aber sie wurde ermordet, oder?«
Der Doktor hob theatralisch die Schultern. »Die Frage kann ich nicht beantworten. Andererseits: Warum sollte sich jemand die Mühe machen, eine tote
Weitere Kostenlose Bücher